Moloch EU und Strippenzieher Jean Monnet (Teil 1)

Jean Monnet
Jean Monnet
erzeugt den ersten europäischen Stahlbarren am 30. April 1953 in Esch-sur-Alzette. Kredit © Europäische Gemeinschaft, 2005
Wie ein Wallstreet-Banker die europäischen Staaten um ihre Souveränität brachte.
sm/rmh/an.
Die heutige EU hat eine doppelte Geschichte. Eine vordergründige, die
in den meisten Geschichtsbüchern zu lesen ist, und eine hintergründige,
über die niemand etwas erfahren soll – eine Geschichte, die schon lange
vor der uns allen bekannten Geschichte begonnen hat. Jean Monnet war das
Scharnier zwischen diesen beiden Geschichtsversionen.
Im
deutschsprachigen Raum ist es Andreas Bracher und seinem Buch ´Europa
im amerikanischen Weltsystem. Bruchstücke zu einer ungeschriebenen
Geschichte des 20. Jahrhundertsª (2001, ISBN 3-907564-50-2) zu
verdanken, dass es kritische Fragen zur offiziellen Biographie des
ansonsten für sakrosankt erklärten Gründervaters Europas gibt. Fragen,
welche die Geschichte des Aufbaus eines supranationalen Gebildes nach
dem Zweiten Weltkrieg in einem anderen Licht erscheinen lassen: nicht
mehr als ein Projekt für eine Zusammenarbeit der Völker Europas und zur
Sicherung des Friedens, sondern als ein Projekt im anglo-amerikanischen
Weltmachtinteresse mit Jean Monnet als ´Erfinder und Lenker von
Institutionen einer übernationalen Zusammenarbeit und als ein Zentrum
angelsächsischer Einflussnahme auf dem Kontinent.
Denn
das supranationale Europa der Nachkriegsjahre, so Bracher weiter,
beruhte auf Initiativen, die häufig von Geldern aus den USA, nicht
zuletzt vom Geheimdienst CIA, mitfinanziert wurden. Monnet war dabei das
Werkzeug einer langfristig angelegten Politik, zu deren Zielen eben
offenbar auch der europäische Einheitsstaat gehört.
Forschungsarbeiten
der letzten Jahrzehnte abseits des Mainstreams wie die von Caroll
Quigley (Katastrophe und Hoffnung. Eine Geschichte der Welt in unserer
Zeit, deutsch 2007, ISBN 3-907564-42-1) oder von Antony C. Sutton
(´Wallstreet und der Aufstieg Hitlers, deutsch 2008, ISBN
978-3-907564-69-1) haben dargelegt, wie der anglo-amerikanische
Machtblock und deren Finanzeliten in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts auf zwei Weltkriege hingearbeitet haben. Dies entsprach der
mehr als 100 Jahre alten geostrategischen Überlegung
anglo-amerikanischer Machteliten, auf dem eurasischen Kontinent eine
politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit – mit einem etwaigen Kern
aus Deutschland und Russland – um jeden Preis zu verhindern; denn eine
solche enge Zusammenarbeit wurde von entsprechenden Kreisen in
Grossbritannien und den USA als Bedrohung ihrer Weltmachtposition
gedeutet.
Dieser
Kurs wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ganz offensichtlich beibehalten
und zieht sich durch bis hin zu den geostrategischen Überlegungen des
ehemaligen Sicherheitsberaters der US-Regierung Zbigniew Brzezinski, die
dieser in seinem Buch "Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der
Vorherrschaft" (1999, ISBN 3-596-14358-6) ganz offen formuliert hat.
Auf
die Frage nach dem Zweck des anglo-amerikanischen Europa-Projektes nach
dem Zweiten Weltkrieg mit Monnet als dessen Promotor gibt schon Bracher
eine erste Antwort: "Das Gesamtszenario dieser Jahre legt nahe, dass
hier eine Gruppe von Menschen den kalten Krieg forciert und dann als
Hintergrund für andere Pläne benutzt hat. Mit der Überbetonung der
sowjetischen Gefahr entstand jene politisch-psychologische Situation, in
der die Europäer bereit waren, sich unter dem Schild der USA
zusammenzuschliessen, um damit die Westfesselung Deutschlands
abzusichern. Monnet selbst umriss die Psychologie dieser Situation in
seinen Erinnerungen so: "Die Menschen fassen grosse Entscheidungen nur
dann, wenn eine Gefahr vor der Tür steht."
Eingedenk
dieser Rolle Jean Monnets lohnt es sich, genauer der Frage "Wer war
Jean Monnet?" nachzugehen. Sehr viel Material hierfür bietet die
1000seitige Biographie Eric Roussels, "Jean Monnet 1888-1979" (1996,
ISBN 978-2213031538). Über die Hintergründe der Personen, mit denen Jean
Monnet eng kooperierte, gibt es weiteres wertvolles Material.
Jean Monnet und die heutige EU
Die
heutige EU ist ein supranationales Gebilde. Die Mitgliedstaaten haben
einen grossen Teil ihrer Souvernitätsrechte aufgegeben. Es war Jean
Monnet, der die Errichtung der supranationalen Institutionen in
entscheidender Weise vorangetrieben hat. Sie wurden von oben herab
implantiert mit dem Ziel, dass die einzelnen Staaten und ihre Bürger
sich diesen Vorgaben anpassen und unterwerfen.1 Für Monnet waren von
oben eingesetzte Institutionen wichtiger als solche, die von den Bürgern
selbst entwickelt werden.
Der
Lissabon-Vertrag, der im November 2009 in Kraft trat, bedeutet einen
weiteren Verzicht der einzelnen europäischen Staaten auf ihre
Souveränität und auf ihre Rechtsstaatlichkeit zugunsten einer
volksfernen Herrschaft der EU-Institutionen. Souveränität und
Rechtsstaatlichkeit und damit die Selbstbestimmung der verfassten
Nation, wie sie seit der Französischen Revolution definiert ist, wurden
Schritt für Schritt abgebaut, ein Vorgehen, das sich durch die gesamte
Geschichte der EU zieht.
Monnet
äusserte sein Leben lang, dass die Existenz von Nationalstaaten
überflüssig, ja sogar gefährlich sei für die Erhaltung des Friedens.
Folglich müssten diese abgeschafft werden. An ihre Stelle sollten die
supranationalen "Vereinigten Staaten von Europa" treten, und an diese
sollten die Nationalstaaten wesentliche Souveränitätsrechte abtreten.
Monnet
ging aber noch weiter. In Theorie und Praxis waren ihm gewählte
Volksvertreter – die ja den Souverän, das Volk vertreten – im Wege. Wann
immer es ging, operierte er an ihnen vorbei und gründete zusätzlich zu
schon bestehenden gewählten Vertretungen private "Komitees", die er mit
Leuten seines Vertrauens aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens
besetzte.
Diese
Komitees dienten dazu, Europa in Monnets Sinne zu organisieren und auch
potentielle Gegenstimmen einzubinden. Eine besondere Rolle spielte
dabei das Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa.2
Zum
anderen gab es Kommissionen, welche die Aufgabe hatten, die einzelnen
Staaten von innen her umzubauen. So kam es in Frankreich 1945/46 zum
Umbau ganzer Regionen nach amerikanischem Modell, z. B. durch das
Riesenprojekt "Bas-Rhone-Languedoc".3 Wir erkennen hier die heute von
der EU vorangetriebene "Regionalisierung" Europas, die sich ebenfalls
gegen den Nationalstaat richtet und nach rein ökonomischen Kriterien
durchgeführt wird, ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen. Die
Untersuchungen von Pierre Hillard4 zeigen, dass ganz Europa heute schon
von Organisationen, Assoziationen und Vereinen überzogen und durchzogen
ist, die den Nationalstaat von innen her sprengen sollen.
Um
diese Entwicklung zu ermöglichen, beschaffte Monnet immer wieder Gelder
aus dem anglo-amerikanischen Raum. Dabei halfen ihm die Beziehungen zu
seinen engsten Freunden aus Kreisen der Hochfinanz und der Politik –
Beziehungen, die weit in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg
zurückreichten.
Monnet, die Finanzeliten und die Weltmachtpolitik in der Weltkriegszeit
Schon
lange bevor das "Vereinte Europa" offiziell im Gespräch war, betötigte
sich Jean Monnet auf der internationalen Bühne des Geschäfts. Geboren
1888 als Sohn eines Kognakhändlers, verliess er die Schule mit 16 Jahren
und ging nach London zu einem Geschäftspartner seines Vaters, um dort
in die Arbeit der City5 eingeweiht zu werden. Nach zwei Jahren wurde er
nach Kanada geschickt, wo er erste, ein Leben lang dauernde Kontakte
knüpfte. Er schloss wichtige Verträge für die väterliche Kognakfirma ab,
insbesondere mit der Hudson’s Bay Company, die das Privileg hatte, den
Trappern Schnaps für die Indianer verkaufen zu dürfen. Unter den
Managern der Hudson’s Bay Company lernte er Menschen kennen, die später
das "Schicksal der Welt" mitbestimmen sollten.6
Bis
zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hielt sich Monnet in den USA auf und
knüpfte wiederum ein Leben lang anhaltende Geschäftsbeziehungen. Reisen
führten ihn nach England, Skandinavien, Russland und Ägypten. Als im
Juli 1914 der Erste Weltkrieg begann, kam er nach Frankreich zurück.
Der
26jährige Jean Monnet wurde aber nicht zum Kriegsdienst eingezogen. Er
hatte statt dessen eine vom Rechtsanwalt seines Vaters vermittelte
Unterredung mit dem französischen Staatspräsidenten Rene Viviani.7
Diesem präsentierte er das Angebot der Hudson’s Bay Company, Frankreich
einen Kredit über 100 Millionen Gold-Francs zugunsten der Banque de
France zu bewilligen, damit es in den USA kriegswichtige Güter kaufen
konnte. Das Geschäft kam zustande. Die Hudson’s Bay Company stellte der
französischen Regierung zusätzlich zum Kredit auch ihre Handelsflotte
zur Verfügung.
Nachdem
das franko-amerikanische Geschäft getätigt war, begab sich Monnet nach
London, um dort ein ähnliches franko-britisch-amerikanisches Geschäft in
die Wege zu leiten. Bei diesen Verhandlungen lernte er einflussreiche
Politiker und Geschäftsleute kennen.8
Monnet
blieb jedoch nicht bei den rein geschäftlichen Angelegenheiten. Er
verknüpfte Geschäft und Politik, indem er sich für die Gründung des
Alliierten Komitees für Überseetransporte einsetzte. Nach der Gründung
des Komitees im Jahr 1918 wurden 2 Millionen amerikanische Soldaten nach
Europa verschifft.
Auf
französischer Seite arbeitete Monnet als Berater eng mit dem
"Superminister" Etienne ClÈmentel zusammen. Dieser hatte die Idee von
einer permanenten, ¸ber den Kriegszeitraum hinweg andauernden
interalliierten Kontrolle der Rohstoffe, eine Idee, die später in Form
der Montanunion von Monnet verwirklicht wurde.
Getreu
seiner Devise, dass der Mensch nur unter dem Druck der Verhältnisse –
hier dem Druck der Kriegswirtschaft – zu Veränderungen bereit ist, hatte
Monnet einen entscheidenden Schritt zur Verwirklichung seines
"Lebensprojektes" getan: die Grenzen der Nationalstaaten wurden
¸berschritten, ein Abbau der Souveränitätsrechte hatte begonnen. Banken
und Handelsgesellschaften konnten nun ohne nationale Schranken ihren
Geschäften nachgehen – und dies mit Unterstützung der Politiker.
Auf
Grund seiner engen Beziehungen zu englischen Politikern und
Geschäftsleuten, zur amerikanischen Geschäfts- und Bankenwelt und zu
einflussreichen französischen Politikern und Bankiers wurde Monnet zum
stellvertretenden Generalsekretär des neu gegründeten Völkerbundes
ernannt. Sein Beziehungsnetz umfasste alle, die für die Gestaltung der
Nachkriegswelt verantwortlich waren.
Monnet
nutzte den Völkerbund als Institution zur Vernetzung mit
Entscheidungsträgern auf internationaler Ebene. Er arbeitete dort mit
den hochrangigsten internationalen Funktionären zusammen und erweiterte
sein Beziehungsnetz um weitere politische Bekanntschaften. Die
Erweiterung dieses Netzes scheint Monnets Hauptaktivität dargestellt zu
haben, denn er nahm nur an der Hälfte der Sitzungen des Völkerbundes
teil und bearbeitete auch weit weniger Dossiers als die übrigen
Mitarbeiter.9
Im
Völkerbund ging es ihm nun darum, die im Krieg aufgebauten Strukturen
zwischen den Nationen beizubehalten, da sie eine wichtige Voraussetzung
für den internationalen Freihandel waren. Die andere wichtige
Errungenschaft aus den Kriegserfahrungen, die Kooperation zwischen
Politik und Geschäftswelt, war noch ausbaufähig, insbesondere im Bereich
des Transport- und Kreditwesens.10
1922
verliess Monnet den Völkerbund und wendete sich verstärkt der
Finanzwelt zu. Er wurde Vizepräsident der mächtigen amerikanischen
Investment Bank Blair & Co, widmete sich Finanzoperationen von
betr‰chtlichen Ausmassen und dehnte sein Beziehungsnetz in Amerika auf
einflussreiche Persˆnlichkeiten aus.11 Ausserdem gr¸ndete er in den USA
die Bank Monnet, Murnane & Co.12 Damit stand er im Zentrum der
internationalen Hochfinanz und war an der Konstituierung von m‰chtigen
anglo-amerikanischen Finanzsyndikaten beteiligt. In seiner Funktion als
Vizepr‰sident der Bank Blair & Monnet Inc. mit Sitz in Paris
spielte Monnet eine entscheidende Rolle bei der Stabilisierung der
französischen Währung im Jahre 1926. Er genoss das Vertrauen des
Präsidenten des Federal Reserve Board13 und übernahm infolgedessen
offiziell die Rolle des Vermittlers zwischen Frankreich und den USA bei
der Frage der Rückzahlung der französischen Kriegsschulden und der
bilateralen Finanzbeziehungen. Er legte die amerikanische Position dar,
die vorsah, dass die Banque de France mit anderen Notenbanken,
insbesondere mit der Federal Reserve Verträge eingeht, und band so das
früher so sehr auf Eigenständigkeit bedachte Frankreich enger an die
USA. Weiterhin war er beteiligt an der Gründung der Bancamerica Blair
und der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel.
1936,
nach der gegen den Versailler Vertrag verstossenden Besetzung des
Rheinlands durch die deutsche Wehrmacht, lernte er in den USA den
ehemaligen deutschen Reichskanzler Brüning kennen, der ihm glaubhaft
versicherte, dass Hitler die Armee für einen neuen Krieg hinter sich
haben würde, wenn die westlichen Demokratien jetzt nicht eingriffen.
Aber Monnet unternahm nichts gegen den Ausbruch dieses Krieges. Im
Gegenteil: Er hatte William Bullitt, den amerikanischen Botschafter in
Paris, kennengelernt, der ein enger Vertrauter Roosevelts war. Und er
gewann die amerikanische Regierung dafür, Kriegsflugzeuge für Frankreich
zu bauen. Nachdem das Hindernis des amerikanischen Neutralitätsgesetzes
überwunden war, führte auch dieses Geschäft zur Ankurbelung der
amerikanischen Wirtschaft.
1
In einem Brief an Dean Acheson (seit 1933 Staatssekret‰r im
Finanzministerium von Roosevelt, Vize-Aussenminister von 1945–1949,
US-Aussenminister von 1949–1953) ‰usserte Monnet am 23.11.1962: ´Dans la
mesure o˘ les intÈrÍts sont de plus en plus unifieÈs, les vues
politiques doivent Ítre de plus en plus communes […] Je pense que si
nous voulons unir les hommes, nous devons unir les intÈrÍts d‘abord et
pour cela il est nÈcessaire que les hommes acceptent d’agir selon les
mÍmes rËgles, d’Ítre administrÈs par les mÍmes institutions. Je sais que
cela peut sembler un long processus, mais un changement dans l‘attitude
des hommes est nÈcessairement un processus lent.ª
´Im
selben Masse, wie die Interessen mehr und mehr vereinheitlicht werden,
m¸ssen die politischen Ansichten mehr und mehr gemeinschaftlich sein.
Ich denke, wenn wir die Menschen vereinigen wollen, m¸ssen wir zun‰chst
die Interessen verbinden, und aus dem Grunde ist es notwendig, dass die
Menschen sich damit einverstanden erkl‰ren, nach denselben Regeln zu
handeln, von denselben Institutionen verwaltet zu werden. Ich weiss,
dass das ein langer Prozess zu sein scheint, aber eine Ver‰nderung in
der Haltung der Menschen ist notwendigerweise ein langsamer Prozess.ª
Dean
Acheson Papers, Box 28, Folder 288. Yale University Library, New Haven
/Connecticut, zitiert nach E. Roussel, a.a.O. S. 766. ‹bersetzung des
Verfassers.
2 Das Komitee wurde 1955 von Monnet selbst gegr¸ndet und existierte unter seiner Pr‰sidentschaft bis zum Jahre 1975.
3
Bas-RhÙne-Languedoc wurde nach amerikanischem Modell komplett
umstrukturiert. ´il a fallu passer par-dessus toutes les
administrations, crÈer une Haute AutoritȪ und ´...il y a eu des
frictions avec les services officiels.ª ´Wir mussten ¸ber alle
Administrationen hinweg eine Hohe Behˆrde gr¸nden. Es gab Friktionen mit
den ˆffentlichen Stellen.ª Eric Roussel, a.a.O. S. 494f. ‹bersetzung
des Verfassers.
4 Siehe dazu: Hillard, Pierre: La Marche irrÈsistible du nouvel ordre mondial, Paris: F.-X.de Guibert 2007.
5 Londoner Finanzplatz
6
Die Hudson’s Bay Company war das ‰lteste kanadische Handelsunternehmen.
Es beherrschte den Pelzhandel in grossen Teilen Nordamerikas und wirkte
in vielen Gebieten als britische De-facto-Regierung. Sein Netzwerk von
Handelsposten stellte den Kern der sp‰teren offiziellen Behˆrden im
westlichen Kanada und den USA dar. Gouverneur der Company war von 1916
bis 1925 Sir Robert Kindersley, den Monnet bereits bei seinem ersten
Aufenthalt kennenlernte. Dieser Kindersley war von 1914 bis 1946
ebenfalls Direktor der Bank von England und schon seit 1905 Partner der
Handelsbank Lazard Brothers & Co, deren Vorstandsvorsitzender er
im Jahr 1919 wurde.
7
´MaÓtre Benon, l’avocat de l’entreprise connaÓt bien RenÈ Viviani […]
les relations maconniques unissant les deux hommes ont jouÈ un rÙle dans
l‘affaire.ª
´MaÓtre
Benon, der Rechtsanwalt des Unternehmens, ist gut bekannt mit RenÈ
Viviani […] denn durch ihre Beziehungen zu den Freimaurern, […] die in
der Sache eine Rolle gespielt haben, waren die beiden M‰nner miteinander
verbunden.ª
Roussel, a.a.O. S. 48. ‹bersetzung des Verfassers.
8
Zum Beispiel Colonel House, eigentlich Edward Mandell House
(1858–1938), wichtigster aussen-politischer Berater der Pr‰sidenten
Woodrow Wilson und Roosevelt.
9
Von 70 Sitzungen nahm er an 30 teil. Siehe: Fleury, Antoine: Jean
Monnet au secrÈtariat de la SDN, S.40, in: Bossuat, GÈrard – Wilkens,
Andreas: Jean Monnet, l‘Europe et les chemins de la Paix. Colloque ‡
Paris 29.- 31. 5 1997. Publications de la Sorbonne 1999.
10
Jilek, Lubor : RÙle de Jean Monnet dans les rËglements d’Autriche et de
Haute-SilÈsie, S. 47, in : Bossuat, GÈrard – Wilkens, Andreas, a.a.O.
11
John Mc Cloy, Wall Street Rechtsanwalt, Berater aller amerikanischen
Pr‰sidenten von Roosevelt bis Kennedy, Pr‰sident der Nationalbank,
Hochkommissar in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Verantwortlich
daf¸r, dass die Zufahrtswege nach Auschwitz nicht bombardiert wurden,
dass viele in N¸rnberg verurteilte Kriegsverbrecher vorzeitig aus der
Haft entlassen wurden, dass Flick und Krupp ihr Vermˆgen zur¸ckbekamen.
John Foster Dulles, Rechtsanwalt, Aussenminister unter Pr‰sident
Eisenhower, Hauptvertreter der Eind‰mmungspolitik gegen¸ber dem
Kommunismus (kalter Krieg). Walter Lippmann, weltber¸hmter Journalist
deutsch-j¸discher Herkunft, enger Mitarbeiter Pr‰sident Wilsons und
seiner grauen Eminenz Colonel House bei der Abfassung des
14-Punkte-Friedensvertrags als Vorlage des Versailler Vertrags.
12 Monnet, Murnane & Co ist assoziiert mit der Chase Manhattan Bank, New York.
13
Federal Reserve Board, auch Board of Govenors genannt, ist der Vorstand
des Federal -Reserve -Systems. Seine sieben Mitglieder werden f¸r 14
Jahre vom US-Pr‰sidenten bestimmt und vom Senat ernannt. Ihre Aufgabe
ist die Ausgabe der Noten und die ‹berwachung der gesamten Bankpolitik
Teil 2: Zeit-Fragen 25/20. Juni 2011
Jean Monnet als Sondergesandter des amerikanischen Präsidenten Roosevelt
Im
ersten Teil unserer Darstellung zu Jean Monnet (Zeit-Fragen Nr. 38 vom
27.9.2010 unter dem Titel «Moloch EU und Strippenzieher Jean Monnet»)1
haben wir gezeigt, wie Monnet, einer der sogenannten «Gründerväter
Europas», sich als internationaler Kognakhändler und Bankier in den
Jahren vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg im
angloamerikanischen Finanz- und Politikmilieu vernetzte. Im folgenden
Teil werden wir Monnets diverse Aktivitäten bis 1945 beschreiben. Durch
diese Aktivitäten zieht sich wie ein roter Faden das Bemühen, die
Souveränität der europäischen Nationalstaaten anzutasten und
aufzubrechen, mit dem Ziel der Herstellung eines grossräumigen Marktes,
sprich Absatzmarktes im Interesse der US-amerikanischen Wirtschaft. In
diesem Zusammenhang muss man auch seine Aktivitäten im Kontext der
französischen Politik sehen. Im folgenden wird viel von Frankreich die
Rede sein, dem ganz eindeutig – und das wird im dritten Teil unserer
Untersuchung u. a. Thema sein – eine ganz bestimmte Rolle bei der
Gründung der «Vereinigten Staaten Europas von Amerikas Gnaden»
zugedacht war.
sh/rmh/an. Eine
wohl sehr treffende Beschreibung Monnets und der Art, wie er sich
bewegte, gibt die Journalistin und erste Alterspräsidentin des
Europäischen Parlaments Louise Weiss (1893–1983), die Monnet recht gut
kannte, in ihren Mémoires d’une Européenne: «Geniales Leuchten in den
dunkelbraunen Augen des kleinen Jean Monnet, wenn er geheimnisvoll,
lebendig und charmant seine Einflussnetze knüpfte, die dem Völkerbund
von Anfang an eine beträchtliche Macht sicherten. Seine Verhandlungen
während des Kriegs hatten ihm alle Türen geöffnet und auch die Tresore
der Finanzbastionen der City, der Wall Street, ja sogar der
chinesischen Häfen. Die Eigentümer der Zeitungen kannten ihn, aber er
schlich und glitt wie eine Natter zwischen den Federn ihrer Redakteure
einher. Öffentlichen Verhandlungen, die ihn gefangengenommen hätten,
zog er die freien Suggestionen seiner speziellen Vorstellungen vor. Er
hatte so seine Art. Er war ein Eingeweihter. Diese Art faszinierte bald
die ganze Welt.»2
Internationale Hochfinanz
Sehr früh also
war Monnet ein einflussreicher Mann geworden, der eine erstaunlich
breite Klaviatur besass, insbesondere für die damalige Zeit. Er ging
bei den wichtigsten politischen Führern der Londoner und New Yorker
Finanzelite und den hohen Beamten des amerikanischen Aussenministeriums
ein und aus. 1923 hatte er den Völkerbund verlassen. Seit er 1926
Vizepräsident der neu eröffneten Europa-Abteilung der sehr mächtigen
amerikanischen Investment Bank Blair & Co. geworden war, nahm
er auch an Finanzoperationen von sehr hohem Niveau teil. Er
organisierte die Vergabe von amerikanischen Krediten zur Stabilisierung
des Franc im Jahr 1926, der des Zloty, der polnischen Währung, und im
Jahr 1928 der des Leu, der rumänischen Währung. Kurz darauf übte er
seine Tätigkeit als Finanzberater in China an der Seite von Chiang
Kai-chek aus, organisierte Anleihen für die chinesische Regierung und
gründete auf Vermittlung von John Forster Dulles, dem späteren
US-Aussenminister, die Bank Monnet, Murnane & Co., um den
Geldfluss nach China zu sichern. Diese Bank wird später auch
einträgliche Geschäfte mit Hitler-Deutschland abschliessen.
Monnet fungierte als ausserordentlich geschickter und erfolgreicher Verbindungsmann zwischen den Interessen der US-amerikanischen Finanz-, Geschäfts- und Politikwelt einerseits und den entsprechenden Kreisen der restlichen Welt, insbesondere Europas. Geschäfte und Souveränitäten
So war es
nicht überraschend, dass der damalige französische Premierminister
Daladier (1884–1970) ihn 1938, als England noch seine
Appeasement-Politik betrieb3, beauftragte, in grösster
Diskretion für die französische Armee Flugzeuge in Amerika zu besorgen,
um die desolate Situation der französischen Luftwaffe zu verbessern.
Bei der Ausführung dieses Auftrages lernte er durch Vermittlung von
US-Botschafter W. Bullitt4 den amerikanischen Präsidenten
(1933–1945) Roosevelt kennen. Die Schwierigkeiten bei diesem Projekt
bestanden darin, dass Frankreich einerseits Probleme bei der Bezahlung
hatte, der amerikanische Finanzminister (1934–1945) Henry Morgenthau
aber die Finanzierung gesichert sehen wollte. Ausserdem mussten Wege
gefunden werden, das Neutralitätsgesetz5 zu umgehen oder
ausser Kraft zu setzen. Nachdem dieses im November 1939 gelockert
worden war, kamen der britische Regierungsberater in
Industrieangelegenheiten und Kabinettchef Chamberlains, Horace Wilson,
der schon eine Schlüsselrolle in Chamberlains Appeasement-Politik
gespielt hatte, und Monnet überein, die französischen und britischen
Waffenkäufe zu vereinen.
Monnet, der sich schon während des Ersten Weltkriegs in London mit Waffenkäufen beschäftigt hatte, fand nun die gleichen Bedingungen vor, wie er sie schon damals gekannt hatte und übernahm auch die gleichen Funktionen. Er hatte sehr schnell verstanden, dass die Amerikaner seit dem Ersten Weltkrieg eine grössere Rolle in der Welt spielten und sich darauf eingestellt. Fusionierung der Souveränitäten
Die Idee einer engen britisch-französischen Union kam aus dem Chatham House6, das von 1925 bis 1956 von dem Geschichtsphilosophen Arnold Toynbee7 geleitet wurde. Seit 1938 hatte man in Verbindung mit dem «Zentrum für aussenpolitische Studien8
in Paris die Idee einer Annäherung der beiden Staaten in vielen
kleinen Zirkeln unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert. Aber
als Toynbee 1940 nach Paris fuhr, bekam das Projekt Publizität und
Aktualität. Es wurde sozusagen lanciert: Bei seiner Rückkehr liess
Toynbee in London ein Memorandum verfassen, den Acte d‘association
perpétuelle, Gründungsakt einer dauerhaften Vereinigung Frankreichs und
Englands. Dieser Plan diente auf der einen Seite dazu, Frankreich durch
militärische, wirtschaftliche und politische Kooperation mit England
gegen einen Angriff Hitler-Deutschlands zu stützen. Auf der anderen
Seite war damit die Absicht verbunden, eine Fusion der Souveränitäten
beider Länder herbeizuführen. Monnet schlug in Zusammenarbeit mit seinem
Freund Vansittart9 dieses Projekt einer totalen Fusion der
Souveränitäten vor. Die Idee war nicht ganz neu. Monnets Freund Bullitt
hatte schon 1936 von «these dingy little states» in Europa gesprochen,
die es eigentlich nicht wert seien als Staaten bezeichnet zu werden.10
Das Projekt war jetzt also lanciert. In England redeten insbesondere die Minister davon. In Frankreich führten es eher Intellektuelle und Pressekreise in die Diskussion ein. Bei seiner Realisierung spielte Jean Monnet eine Schlüsselrolle. 1939 begab er sich nach London und sandte parallel an den englischen Premierminister Churchill (1940 bis 1945 und 1951 bis 1955) und an den französischen Ministerpräsidenten Reynaud (Mai 1940 bis Juni 1940) eine Note, in der er seiner Befürchtung Ausdruck verlieh, dass Hitler England und Frankreich auseinanderdividieren könnte. Deswegen müssten die Verbindungen unauflöslich gemacht werden: Die Kräfte der beiden Staaten müssten wie eine einzige Kraft eingesetzt werden. Um seiner Argumentation noch weiteres Gewicht zu geben, fügte er – ein für ihn typisches Vorgehen – hinzu: Die fast unbegrenzte Produktionskraft der Amerikaner würde sich ihnen nur dann zur Verfügung stellen, wenn sie selbst eindeutig die Bereitschaft bekundeten, gemeinsam zu kämpfen. Ansonsten könne man die Hilfe der Amerikaner vergessen. Damit wurde Monnet im September 1939 ein «alliierter Funktionär» der britischen und französischen Regierung, der über den nationalen Interessen stand.11 Auf der falschen Seite?
Als Frankreich dann
in der «drôle de guerre», dem «seltsamen Krieg», vom 10.5. bis
22.6.1940 Hitler-Deutschland unterlag, stellte sich für die
französischen Eliten die Frage der Kapitulation und des
Waffenstillstands oder des Weiterkämpfens von den französischen
Kolonien aus. Durch eine gezielte Propaganda wurden die Namen von
General Weygand und Marschall Pétain, beide Sympathisanten
Hitler-Deutschlands und fanatische Antikommunisten, als Retter
Frankreichs verbreitet. Der aus dem Ersten Weltkrieg in gewissen Kreisen
mit grossem Ansehen verbundene Name des Marschall Pétain, dem
sogenannten «Sieger von Verdun», verleitete viele Politiker dazu, ihm in
den Waffenstillstand zu folgen. Pétain unterschrieb diesen als letzter
Ministerpräsident der Dritten Republik, um danach Staatschef des neu
geschaffenen Etat Français zu werden, der mit Hilfe eines
Ermächtigungsgesetzes («les pleins pouvoirs») die Republik abschaffte
und ein mit Hitler kollaborierendes autoritäres Regime, das nach dem
Regierungssitz benannte Vichy-Régime installierte. Charles de Gaulle,
der in jungen Jahren als Berufssoldat auch ein Bewunderer Pétains
gewesen war, vollzog diesen Schritt nicht mit. Er verurteilte den
Waffenstillstand mit Nazi-Deutschland und begab sich mit einigen
Mitstreitern nach London. Von dort aus forderte er mit der Erlaubnis
Churchills am 18. Juni in seinem berühmten Appel du 18 Juin über die BBC
das französische Volk auf, den Waffenstillstand nicht zu akzeptieren
und den Kampf an der Seite Englands und Amerikas weiterzuführen. Nur
einige wenige waren bei ihm, mit denen er dann eine
Widerstandsorganisation, das Comité National Français (CFN) aufbaute.
Hier in London begegneten sich Jean Monnet und de Gaulle. Wie ist es nun zu erklären, dass Monnet, der offiziell ein erklärter Gegner Vichy-Frankreichs war, de Gaulle keineswegs unterstützte, als dieser 1940 in London begann, den Widerstand gegen die deutsche Besatzung Frankreichs zu organisieren? Monnet fuhr in die USA, um dort im Auftrag Churchills Waffen für England zu kaufen. Er blieb dort und wurde in den harten Kern des Beziehungsnetzes im engsten Kreis um Präsident Roosevelt integriert. (Dean Acheson, Staatssekretär im Aussenministerium; Felix Frankfurter, Richter am obersten amerikanischen Gerichtshof; Francis Biddle, Justizminister; Phil Graham, Medienzar)12 Während dieser Zeit verkehrte er auch in Exilkreisen, die gegen de Gaulle bei der amerikanischen Regierung intrigierten. Monnets diverse Argumente, de Gaulle sei ein Diktator, faschistisch, psychotisch, sei Hitler ähnlich, habe keine Legitimation, die Franzosen zu vertreten usw. wurden beliebig benutzt, um ihn zu desavouieren und als Kopf einer Nachkriegsregierung unmöglich zu machen.13 De Gaulles Position passte ihnen nicht, weil er mit all ihm zur Verfügung stehender Kraft die Souveränität Frankreichs wiederherstellen wollte. Über die Landung der US-amerikanischen Flotte in Algerien14 wurde de Gaulle in London weder informiert, geschweige denn darin einbezogen. Die amerikanische Regierung glaubte, in General Giraud15 einen passenden Mann gefunden zu haben, den sie für ihre Zwecke benutzen konnte. Er wurde im Dezember 1942 zum Hochkommissar für Französisch Nord- und Westafrika gemacht. Es musste ihm nur noch schnell ein demokratisches Mäntelchen umgehängt werden, damit er für die Weltöffentlichkeit präsentabel wurde. Diese Aufgabe übernahm Monnet in seiner Funktion als Sondergesandter des amerikanischen Präsidenten Roosevelt. Einen französischen Auftrag hatte er nicht.16 Die Tatsache, dass Giraud in Algerien die rassistischen bzw. faschistischen, an Hitler-Deutschland angelehnten Vichy-Gesetze gegen Juden und Résistance-Kämpfer anwandte, wurde in diesem Zusammenhang von den Machthabern als quantité négligeable angesehen. Eine Tatsache, die um so schwerer wiegt, als ohne die aktive Unterstützung von etwa 400 Widerstands-Kämpfern die Landung der alliierten Streitkräfte im November 1942 wesentlich schwieriger gewesen wäre, da die Vichy-Verwaltung erheblichen Widerstand leistete. Diese Tatsachen zeigen deutlich, dass de Gaulle nicht der «Mann Amerikas» war und die Vorwürfe ihm gegenüber als Propagandalügen angesehen werden müssen. Aktiv im Dienste Roosevelts
In Algier
befolgte Monnet als direkter Sondergesandter Roosevelts dessen
Aufträge. Dabei halfen ihm grosse Summen amerikanischer Gelder,
ermöglicht durch den Lend-Lease-Act.17 Insgesamt erhielt
Frankreich auf diesem Wege während des Krieges 4 Milliarden Dollar.
Monnet organisierte damit u.a. die Versorgung der «Forces françaises
libres». Dabei arbeitete er eng mit dem jungen Finanzberater Christian
Valensi zusammen, der wie Monnet über ein bedeutendes Beziehungsnetz
auf beiden Seiten des Atlantiks verfügte und auch nach Kriegsende
massgeblich beteiligt war an der Beschaffung amerikanischer Kredite
zusätzlich zu Geldern aus dem Marshall-Plan.18 Gleichzeitig
boykottierte Monnet das nationale Befreiungskomitee in London unter
Führung de Gaulles, der von der Gesamtheit der französischen Résistance
anerkannt und mit deren Leitung beauftragt worden war. Als jedoch
immer deutlicher wurde, dass es an de Gaulle kein Vorbeikommen gab,
bezog man ihn mit ein, in der Hoffnung, ihn in einem grossen Komitee
«ertränken» zu können, d. h. kaltzustellen.19
Hier in Algier wurden die konkreten Pläne für den Wiederaufbau Frankreichs und Europas nach dem Krieg entworfen und die zukünftigen «Regierungsmannschaften» aufgestellt. Monnet wirkte dabei entscheidend mit. Er selbst war im provisorischen Kabinett oder «grossen Komitee» als Minister für Waffenbeschaffung, Versorgung und Wiederaufbau vorgesehen. Er brachte seine in den USA entwickelten Vorstellungen vom wirtschaftlichen Aufbau Frankreichs und Europas ein und traf bei all den Männern, mit denen er seit den Zeiten im Völkerbund Kontakte geknüpft hatte, auf offene Ohren. Gleichzeitig versuchten Eisenhower und Roosevelt über General Giraud direkt Einfluss auf die Politik des Komitees zu nehmen, indem sie die Einstellung der amerikanischen Waffenlieferungen in Aussicht stellten für den Fall, dass Giraud seine Stellung in dem Komitee, die durchaus umstritten war bei den Franzosen, nicht behalten würde. Monnet hatte in seinen «amerikanischen Jahren» auf Grund seiner engen Beziehungen zur dortigen Machtelite deren Vorstellungen vom Nachkriegseuropa aufgenommen. So war er eng mit dem späteren Aussenminister John Foster Dulles befreundet, der 1941 in einem Artikel vorschlug, Europa nach dem Krieg zentralistisch zu reorganisieren, und behauptete, es sei verrückt, den einzelnen europäischen Staaten wieder die volle Souveränität zuzugestehen.20 Das amerikanische Magazin «Fortune» und der Journalist John Davenport, zu denen Monnet sehr enge Beziehungen unterhielt, war das Sprachrohr der Hochfinanz und der amerikanischen Kartelle. 1943 wurde dort die Gründung einer europäischen Transportgemeinschaft vorgeschlagen, die über den Staaten stehen sollte, sowie eine europäische Währungsunion, die von einer europäischen Bank dirigiert werden sollte. Europa sollte sich eng an Amerika und England anlehnen. Monnet nahm die amerikanische Botschaft auf: Schnell handeln, um Westeuropa zu einen und einen grossen Markt schaffen mit oder ohne gemeinsame Behörde, schliesslich Frankreich dazu anstiften, eine europäische Föderation zu schaffen, um Deutschland einzubinden. 1943 entwirft er eine Denkschrift für das CFLN21, in der er die Gründung einer Wirtschaftsgemeinschaft vorschlägt, die von einer französischen Initiative ausgehen soll, «um eine demokratische Ordnung in Europa zu schaffen. Europa kann zu einem Staat werden, der Frieden und Glück bringt», indem er sich über die nationalen Souveränitäten erhebt.22 Die Rolle Frankreichs ist damit festgelegt: Speerspitze der europäischen Einigung mit Monnet als treibender Kraft ohne jede parlamentarische Legitimation. Diese in den USA entwickelten Vorstellungen und Pläne für das Nachkriegs-Europa geben eine erste Antwort auf die Frage, warum die USA de Gaulle ausbooten wollten. Seine Psychiatrisierung und Abstemplung als Faschist waren Mittel zu dem Zweck, den Kopf der Bewegung, die für die Souveränität Frankreichs eintrat, auszuschalten. Wenn man de Gaulle selbst liest und die Untersuchungen zu den Hintergründen der amerikanischen Aussenpolitik des 20. Jahrhunderts, wie wir sie in unserem ersten Artikel angedeutet haben, einbezieht, so kommt man der Wahrheit ein weiteres Stück näher.23 De Gaulle und Roosevelt – Pläne für die Welt nach dem Krieg
De
Gaulle beschreibt in seinen Memoiren seine Unterhaltung mit Roosevelt
im Juli 1944 in Washington. Im Laufe dieser Unterhaltung legte
Roosevelt seine Strategieüberlegungen für die «Welt» nach dem Zweiten
Weltkrieg dar. Roosevelts Vision erschien de Gaulle mehr als
beunruhigend für Europa und insbesondere Frankreich. De Gaulle führt
wörtlich aus: «[Roosevelt] gedenkt nun ein internationales System zu
schaffen, das auf ständige Intervention hinausläuft. Er denkt an ein
Viererdirektorium: Amerika, Sowjetrussland, China und Grossbritannien
sollen die Weltprobleme regeln. Ein Parlament der Vereinten Nationen
soll der Macht dieser ‹vier Grossen› einen demokratischen Anstrich
geben. Aber wenn man [das heisst die USA] die Welt nicht auf Gnade und
Ungnade den drei anderen ausliefern will, muss solch eine Organisation,
meint Roosevelt, die Anlage amerikanischer Stützpunkte in allen Teilen
der Erde und zum Teil auch auf französischem Gebiet einschliessen.
Roosevelt glaubt, auf diese Weise die Sowjets in eine Gemeinschaft
hineinbringen zu können, die ihre Ambitionen in Schach halten wird und
in der Amerika seine Klientel um sich scharen kann. Von den «vier
Grossen» ist, wie er weiss, das China Chiang Kai-cheks von seiner Hilfe
abhängig, während die Engländer, sofern sie nicht ihre Dominien
verlieren wollen, sich seiner Politik beugen müssen. In bezug auf die
mittleren und kleineren Länder wird er in der Lage sein, auf sie dank
amerikanischer Hilfeleistungen einzuwirken. Schliesslich werden das
Selbstbestimmungsrecht der Völker, die amerikanische Auslandshilfe, das
Vorhandensein amerikanischer Stützpunkte in Afrika, Asien und
Australien dem Entstehen neuer souveräner Staaten förderlich, die die
Zahl derer vermehren werden, die den Vereinigten Staaten verpflichtet
sind. In solcher Perspektive können die eigentlichen Probleme Europas …
nur von nebensächlicher Bedeutung sein».24
De Gaulle erkannte in dieser Konzeption einen ausgesprochenen «Willen zur Macht» und den Willen, Europa zu dominieren. Er wies darauf hin, dass dieser Plan den Westen in Gefahr bringen würde. «Werde man nicht, wenn man Westeuropa als zweitrangig behandele, gerade der Sache schaden, der man zu dienen glaubt: der Sache der Zivilisation?» […] «Der Westen ist es, sage ich zu Präsident Roosevelt, den man wieder aufbauen muss. Wenn das geschehen ist, wird ihn sich die übrige Welt wohl oder übel zum Vorbild nehmen. Wenn es nicht geschieht, wird es der Barbarei gelingen, alles hinwegzufegen. Westeuropa ist trotz seiner Zerrissenheit für den Westen von wesentlicher Bedeutung. Nichts kann den Wert, die Kraft, die Ausstrahlung der alten Völker ersetzen.»25 Roosevelt sprach dann von seiner grossen Enttäuschung über das französische Volk, das sich einfach so von den Nazis hatte überrennen lassen. De Gaulle, der sehr höflich war, entgegnete ihm nichts. Aber er dachte: Wenn Amerika Frankreich sowohl nach dem Ersten Weltkrieg geholfen hätte, wie auch zu Beginn des Zweiten, oder wenn man ihn, General de Gaulle, unterstützt hätte anstelle des Vichy-Regimes, dann wäre es vielleicht anders gekommen. Es wird damit deutlich, dass de Gaulle die angebliche Enttäuschung Roosevelts als unehrlich empfand. Er verliess Roosevelt mit der Überzeugung, dass in den Beziehungen der Staaten untereinander die Logik und das Gefühl nicht schwer wögen im Vergleich zu den Realitäten der Macht. Allein was man sich nehme und was man zu halten wisse habe Bedeutung. Frankreich könne nur auf sich selber zählen, wenn es wieder seinen Platz unter den Nationen erlangen wolle.26 •
1
Siehe «Moloch EU und Strippenzieher Jean Monnet», in Zeit-Fragen Nr.
38 vom 27.9.2010. Genauso wie in unserem ersten Teil stützen wir uns
auch in diesem Teil auf die Biographie von Eric Roussel Jean Monnet
1888–1979, Fayard 1996, ISBN 978-2-213-03153-8. Wir stützen uns
zusätzlich auf ein weiteres Werk von Eric Roussel Le naufrage. Paris,
Editions Gallimard, 2009
2 Louise Weiss, Mémoires d’une Européenne. (Erinnerungen einer Europäerin). Paris, Albin Michel, 1971, p. 141 Zitiert nach: Eric Roussel, Le naufrage. Paris, Editions Gallimard, 2009. Übersetzung des Verfassers. 3 Mit Appeasement-Politik ist die Beschwichtigungspolitik gemeint, die in erster Linie von Grossbritannien in den Jahren 1935–1939 verfolgte Politik der Zugeständnisse, der freundlichen Zurückhaltung und des aktiven Entgegenkommens gegenüber Hitlers Machtinteressen. Verantwortlich für diese britische Politik zeichnete Premierminister (1937–1940) Neville Chamberlain. Seine Haltung, der sich Daladier und Mussolini anschlossen, ermöglichte Hitler in den Jahren 1935– 39 die Einverleibung von Saarland, Rheinland, Österreich, Sudetenland (Münchner Konferenz von 1938) und der restlichen Tschechoslowakei. 4 William C. Bullitt (1891–1967) arbeitete 1919 in der Verhandlungsdelegation des amerikanischen Präsidenten Wilson bei der Pariser Friedenskonferenz und galt als Unterstützer des Internationalismus, der dem Isolationismus in den USA gegenüberstand. 1933 arbeitete Bullitt im Wahlkomitee von F. D. Roosevelt und schrieb dessen aussenpolitische Reden. Bullitt lernte Monnet 1934 in Moskau kennen, als er dort Botschafter war. Von 1936 bis 1940 war er Botschafter in Frankreich. 5 Die verschiedenen Neutralitätsgesetze schrieben ein Verbot von Waffenexporten und finanzieller Unterstützung für kriegführende Staaten vor. Aber durch die Ergänzung der «Cash-and-Carry»-Klausel erlaubte man den Kriegführenden, amerikanische Waren gegen Barzahlung zu erwerben und sie mit eigenen Schiffen abzutransportieren. Dank dieser erfindungsreichen Klausel war der gewinnbringende Absatz von kriegsnützlichem Material wie Erdöl, Baumwolle, Kupfer, Stahl, Lastwagen etc. auch weiterhin gewährleistet. Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917. München 1966, S. 208. In: Walther Hofer, Herbert R. Reginbogin, Hitler, der Westen und die Schweiz 1936–1945. Zürich 2001. 6 Chatham House, bis 2004 auch Royal Institute of International Affairs genannt, ging 1920 aus dem bereits 1911 gegründeten Round Table hervor, der von Lord Milner in der Tradition des britischen Imperialisten Cecil Rhodes ins Leben gerufen wurde, um eine neue, liberale Form des Imperialismus zu propagieren. Sitz dieser mächtigen Denkfabrik ist das Gebäude eines früheren Earl of Chatham in London. Parallel dazu wurde das Council of Foreign Relations (CFR) in New York gegründet. Seine Gründer, von Kritikern als Assoziation von Bankern angesehen, verfolgten von Anfang an das Ziel, dem Isolationismus entgegenzutreten. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit des CFR in den letzten 100 Jahren ist es, den Isolationismus bis auf eine Randerscheinung zurückgedrängt zu haben. Der CFR garantiert die Kontinuität einer internationalistischen und interventionistischen Aussenpolitik. Über verschiedene aussenpolitische Netzwerke nimmt der CFR Einfluss auf die aussenpolitischen Eliten der wichtigen westlich orientierten Länder. In Deutschland sind das die «Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik» (DGAP) und «Atlantikbrücke». In Frankreich ist es das Institut français des relations internationales (IFRI). (Zu dessen Gründung siehe Fussnote 8.) In den Think tanks wurden und werden Wissenschaftler, Journalisten, Rechtsanwälte und Verleger kooptiert. Zur Milner Group sei Carroll Quigley zitiert: «No country that values is safety should allow what the Milner group accomplished – that is, that a small number of men would be able to wield such power in administration and politics, should be given almost complete control over the publication of documents relating to their actions, should be able to exercise such influence over the avenues of information that create public opinion, and should be able to monopolize so completely the writing and the teaching of the history of their own period.» «Kein Land, dass seine Sicherheit wertschätzt, sollte erlauben, was der Milner Group gelang, nämlich dass eine kleine Gruppe von Männern in der Lage war, eine solche Macht in Regierung und Politik auszuüben, dass sie die fast vollständige Kontrolle über die Publikationen von Dokumenten, die mit ihren Handlungen zusammenhängen, hatten, dass sie in der Lage waren, einen solchen Einfluss auf die Informationsflüsse auszuüben, die die öffentliche Meinung erzeugen, und dass sie in der Lage waren Forschung und Lehre ihrer eigenen Periode so vollständig zu monopolisieren.» Carroll Quigley, The Anglo-American Establishment, Cover-Text. Übersetzung des Verfassers. 7 Arnold Toynbee (1889–1975) arbeitete sowohl im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg für das britische Aussenministerium als Berater des «War Propaganda Bureau» und schrieb gegen die Mittelmächte und das Osmanische Reich gerichtete Propaganda-Pamphlete. 1919 war er Teilnehmer an der Friedenskonferenz von Versailles. Eines seiner letzten Werke: Menschheit – woher und wohin? Plädoyer für den Weltstaat (Stuttgart 1969) 8 Centre d’études de politique étrangère, 1935 von französischen Universitäten und mit Geldern aus der Stiftung des US-amerikanischen Stahl-Magnaten Carnegie, der auch das CFR grosszügig unterstützte, nach dem Beispiel des Chatham House gegründet. Vorläufer des heutigen Institut français des relations internationales (IFRI). 9 höchster Beamter im britischen Aussenministerium 10 Zitiert nach Roussel, a.a.O., S. 234. 11 Gérard Bossuat, S. 3 12 Roussel, a.a.O., S. 255 und 402 13 Roussel, a.a.O., S. 403 14 Algerien war zu der Zeit, ebenso wie Marokko und Tunesien, französische Kolonie und wurde von Vichy-freundlichen Gouverneuren verwaltet. 15 General Giraud entfloh auf abenteuerliche Weise, unter Mithilfe des Colonel Linarès, einem vollkommen loyal gesinnten Vertrauten Monnets, im April 1942 der deutschen Gefangenschaft. Er war Anhänger Pétains und der von diesem vertretenen Vorstellung eines autoritären, undemokratischen Staates, lehnte aber eine Kollaboration mit den deutschen Besatzern ab. Er lebte deswegen im französischen Untergrund, bis ihn die Alliierten «befreiten» und nach Gibraltar brachten. 16 Roussel a.a.O., S. 363, Couve de Murville. Er bearbeitete ihn wochenlang täglich für seine «erste demokratische Rede». (Fussnote: «Depuis des semaines il lutte pied à pied pour convaincre Giraud» und am 14. März 1943 war es dann so weit: «Et le 14 mars 1943 […] je prononçai le premier discours démocratique de ma vie.» Eric Roussel, a.a.O., S. 315 «Seit Wochen kämpft er Schritt für Schritt, um Giraud zu überzeugen.» «Und am 14. März 1943 hielt ich die erste demokratische Rede meines Lebens». (Übersetzung des Verfassers) 17 Gelder, die durch den Lend-Lease-Act, der von Präsident Roosevelt am 11.3.1941 unterzeichnet und mit dem die amerikanische Neutralität aufgehoben worden war, ermöglicht wurden. Siehe auch Fussnote 5. In: James J. Dougherty, Lend-Lease and the Opening of French North and West Africa to Private Trade. Cahiers d’Etudes africaines, N° 59, XV-3, pp. 481–500; S. 481) 18 Nach Kriegsende handelte Valensi bei der amerikanischen Export-Import-Bank zusätzlich zu der einen Milliarde Dollar aus dem Marshall-Plan weitere umfangreiche Kredite für Frankreich aus. Auf diese Weise wurde die wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit Frankreichs von den USA verstärkt und eine unabhängige und souveräne Politik nach innen und aussen verunmöglicht. In: Anne Sabouret, MM. Lazard Frères et Cie – Une saga de la fortune. Paris, Olivier Orban, 1987, S. 134 19 Roussel, a.a.O., S. 366. Siebenköpfiges Komitee, dem unter anderen de Gaulle, Giraud, André Philipp und Jean Monnet angehörten. André Philipp wurde als Vertrauter von de Gaulle in das Komitee berufen und wurde Kommissar für Innere Angelegenheiten. Unter dem stärker werdenden Einfluss von Jean Monnet entwarf er unter dessen Mithilfe und der von René Mayer einen Plan für ein Konzept von einer westeuropäischen Integration, zu der die Gemeinschaft der Schwerindustrie ein erster Schritt sein sollte. 20 Gérard Bossuat, Jean Monnet. Le blog d’Europe hebdo, 20.8.2009. S. 4 21 Comité français de la libération nationale 22 Gérard Bossuat, a.a.O., S. 4 23 Charles de Gaulle, Memoiren, 1942–1946, Düsseldorf 1961. 24 a.a.O., S. 222f 25 a.a.O., S. 224f 26 a.a.O., S. 225.
|
Europäische Integration (Teil 1) |
(Zeit-Fragen)
Das «europäische Orchester» wieder zum Klingen bringen
Europäische Integration (Teil 3)
Die «Methode Schaffner» als ein Schlüssel zum Verständnis des Erfolgs der Schweiz
von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich
In
Teil 1 dieser Artikelfolge haben wir die «Methode Monnet» als
Schlüssel zum Verständnis der Euro-Krise erkannt (Zeit-Fragen Nr. 50
vom 12.12.2011). In Teil 2 haben wir zwei unterschiedliche
Vorstellungen kennengelernt, wie «Europäische Integration» aussehen
könnte – auf der einen Seite das Konzept der EWG und heutigen EU und
auf der andern Seite die EFTA, die europäische Freihandelsassoziation
(Zeit-Fragen Nr. 3 vom 17.1.2012). Wir haben die Politiker
kennengelernt, die dem «Modell» EFTA zum Durchbruch verhelfen wollten.
In der Schweiz waren dies vor allem die beiden Bundesräte Hans
Schaffner und Friedrich Traugott Wahlen, die mit ihren engsten
Mitarbeitern Albert Weitnauer und Paul Jolles das «Europa-Dossier»
betreuten. In der Auseinandersetzung um die beiden unterschiedlichen
Konzepte fehlte es nicht an Eklats verschiedenster Art. So war die Tinte
auf dem EFTA-Vertrag von 1960 noch kaum getrocknet, als
Grossbritannien zur EWG hinüber wechseln wollte und die andern
EFTA-Länder sich halbherzig anschickten, im Kielwasser der Grossmacht
zu folgen. Heute zeigen die Dokumente, dass die US-Regierung im
Hintergrund die Fäden zog. Der französische Präsident Charles de Gaulle
durchkreuzte den Plan, als er am 14. Januar 1963 die
Beitrittsverhandlungen von Grossbritannien mit einem «Paukenschlag»
beendete. – Erst jetzt konnte die EFTA mit ihrer eigentlichen Arbeit
beginnen.
Nicht nur in Europa
war ein Ringen um den «richtigen» Weg der wirtschaftlichen Integration
zu beobachten. Ein weiterer Schauplatz waren die Verhandlungen im GATT.
Auch hier gab es verschiedene Vorstellungen, wie das Wirtschaftsleben
zwischen den Ländern – weltweit – besser zu vernetzen sei. Auch hier
arbeitete Hans Schaffner mit seinen Mitarbeitern an vorderster
Front – waren doch 45 Prozent der Exporte der Schweiz für
aussereuropäische Länder bestimmt. Auch hier kam es zu einer ähnlich
paradoxen Situation wie oben geschildert. Bundesrat Hans Schaffner
leitete die sogenannte Kennedy-Runde1, die wichtigste
Verhandlungsrunde des GATT nach dem Zweiten Weltkrieg, obwohl die
Schweiz gar nicht Mitglied des GATT war. Wie kam es zu dieser
merkwürdigen Situation?
General Agreement on Tarifs and Trade (GATT)
1947
gründeten 23 Länder das GATT mit dem Ziel, weltweit die hohen Zölle
und Handelsschranken schrittweise abzubauen. Die USA zum Beispiel
verlangten damals für Schweizer Uhren einen Zoll von 60 Prozent. Zu den
Gründungsmitgliedern gehörten die hoch entwickelten Industrieländer
des Westens, Agrarländer wie Australien und Brasilien,
Entwicklungsländer und einige wenige kommunistische Länder. Alle
Mitglieder hatten gleiche Rechte und jedes Land hatte eine Stimme. Die
Verträge konnten nur geändert werden, wenn alle zustimmten.
Die
Schweiz exportierte in der Nachkriegszeit – ähnlich wie heute – etwa
vierzig Prozent ihrer Produkte und Dienstleistungen ins Ausland und war
interessiert beizutreten. Dazu kam es nicht. 1947 hatten die
Stimmbürger den neuen Wirtschaftsartikeln in der Bundesverfassung
zugestimmt. Diese beauftragten den Bund, Massnahmen zu ergreifen zum
Schutz eines gesunden Bauernstandes und einer leistungsfähigen
Landwirtschaft (Art. 31 bis Abs. 3 BV). Das Landwirtschaftsgesetz von
1951 schützte die Existenz der einheimischen Bauern mit Zöllen und
Kontingenten. Ein Beitritt war deshalb nicht möglich. Es war die
Aufgabe von Hans Schaffner, damals Direktor der Handelsabteilung, die
Zustimmung für eine Ausnahmeregelung zu bekommen. 1958 stand er kurz
vor seinem Ziel. Fast alle Mitglieder des GATT waren einverstanden, die
Schweiz mit einer Sonderregelung aufzunehmen. Fast alle – die
Agrarländer Australien und Neuseeland legten das Veto ein –, und die
Schweiz wurde nur als provisorisches Mitglied ohne Stimmrecht
aufgenommen.
Das hinderte Hans
Schaffner nicht, aktiv mitzuarbeiten. So leitete er vom 16. bis 21. Mai
1963 die Ministerkonferenz des GATT, die das Regelwerk für die
sogenannte Kennedy-Runde aufstellte. Es gelang ihm, den Generaldirektor
des GATT zu gewinnen, den Vollbeitritt der Schweiz mit einer
Sonderregelung zu unterstützen. Am 1. April 1966 war es soweit: Alle
Mitglieder des GATT stimmten zu. Hans Schaffner beschrieb diese
Situation im Bundesblatt, dem Amtsblatt der Schweiz, wie folgt:
«Wenn unsere Partner sich dazu bereit fanden, so geschah es zum Teil
darum, weil sie einem Land von der Statur der Schweiz trotz ihrer fest
gefügten Sonderart, die in kein Schema passt, den Weg zum GATT nicht
versperren wollten. […] In diesem Sinn ist die Freiheit, die der
Schweiz für die Fortführung ihrer Agrarpolitik eingeräumt wurde, nicht
unbeschränkt. Die Schranken ergeben sich aus der Tatsache, dass unser
Land keine isolierte Existenz führt, sondern mit seiner
wirtschaftlichen Umwelt aufs engste verbunden ist.» (Bundesblatt 1966, S. 713)
Einige Monate später schilderte Albert Weitnauer,
Leiter der Schweizer Verhandlungsdelegation, an der
Botschafterkonferenz die Ereignisse im GATT noch genauer: «Das General
Agreement wird in seinem Wortlaut von sozusagen niemandem voll
eingehalten. In der Gewährung von Ausnahmen oder Dispensen von der
Verpflichtung des GATT ist die Organisation stets nach dem Grundsatz
vorgegangen, desto strenger zu sein, je stärker das betreffende Land
wirtschaftlich ist. Die Entwicklungsländer geniessen ein Sonderstatut,
das sie der Respektierung fast aller Vorschriften des GATT enthebt. Die
hochentwickelten Länder auf der andern Seite, deren Zahlungsbilanz in
Ordnung ist, haben grosse Mühe, vom GATT Dispense von ihren
Verpflichtungen nach dem Accord général zugestanden zu erhalten. Wir
konnten es unter diesen Umständen als Erfolg unserer Handelspolitik
verbuchen, dass es uns gelang, nachdem wir uns während mehr als sieben
Jahren mit dem Status eines provisorischen Mitglieds hatten begnügen
müssen, durch einen Beschluss der GATT-Vertragsparteien vom 1. April
dieses Jahres als Vollmitglied der Organisation aufgenommen zu werden,
obwohl die schweizerische Landwirtschaftspolitik mit ihren vielfältigen
Einfuhrbeschränkungen mit dem GATT-Statut keineswegs vereinbar ist.»
(Botschafterkonferenz vom 1. September 1966, www.dodis.ch/30835)
Hans Schaffner und Friedich Traugott Wahlen
hatten im GATT die Überzeugung vertreten, dass die Grundsätze des
Freihandels nicht 1:1 auf die Landwirtschaft übertragen werden könnten,
weil die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu gross seien und
die Selbstversorgung für viele Länder existentielle Bedeutung habe
könne. Die Schweiz hatte dies im Zweiten Weltkrieg hautnah erlebt. Diese
Überzeugung war bereits in die Statuten der EFTA eingeflossen. Die
Geschichte sollte dieser Politik Recht geben. In Wirklichkeit wurde auch
im GATT der Freihandel im Bereich der Landwirtschaft nie richtig
durchgeführt. Daran hat sich auch heute nichts geändert. Die WTO als
Nachfolgeorganisation des GATT hat in der Doha-Runde elf Jahre
lang versucht, die Regeln des globalen Freihandels auf die
Landwirtschaft zu übertragen, und ist daran gescheitert. Die EFTA hält
seit 1960 daran fest, die Landwirtschaftspolitik den einzelnen
Mitgliedsländern zu überlassen.
Kehren
wir zurück zur «Europäischen Integration». Auch in diesem Bereich
hatten Hans Schaffner und seine Mitarbeiter mit ihrer Politik Erfolg.
Es fällt auf, wie gewandt sie sich auf dem internationalen Parkett
bewegten und das politische Geschehen als Vertreter eines neutralen
Kleinstaates aktiv mitgestalteten (obwohl oder gerade weil die Schweiz
damals nicht Mitglied der Uno war).
Freihandelsvertrag von 1972
Nach dem Veto des französischen Staatspräsidenten de Gaulle
nahmen die sieben EFTA-Länder ihren ursprünglichen Plan wieder auf,
eine grosse Freihandelszone zu schaffen, die sowohl die Länder der
Europäischen Gemeinschaft wie auch der EFTA als gleichberechtigte
Teilnehmer umfasste – ein Projekt, das die USA in den 1950er Jahren noch
verhindert hatten. Hans Schaffner trat 1969 aus gesundheitlichen
Gründen als Bundesrat zurück. Es war ihm in den letzten Jahren seiner
Regierungstätigkeit noch gelungen, das Vertragswerk der EFTA zu
festigen. Paul Jolles, Leiter des Integrationsbüros, war massgebend beteiligt, als 1972 der geplante Freihandelsvertrag zwischen der EG und den EFTA-Ländern abgeschlossen wurde.
Für
Hans Schaffner und seine Mitarbeiter hatte der Vertrag auch eine
persönliche Bedeutung: Eine relativ kleine Gruppe von Personen aus dem
Bundesrat und der Verwaltung führte damals die Verhandlungen zur
Europapolitik. Es war für sie deshalb eine grosse Genugtuung, als die
Schweizer Stimmbürger dieser Politik zustimmten und den
Freihandelsvertrag mit einem überwältigenden Mehr von 72,5 Prozent
Ja-Stimmen und mit allen Ständestimmen annahmen.
Die
EG und die EFTA erlebten in der Folgezeit ihre besten Jahre. Der
grosse Freihandelsvertrag von 1972 wurde in den nächsten Jahren ergänzt
durch zahlreiche weitere Verträge aus dem Dienstleistungsbereich – zum
Beispiel mit dem grossen Versicherungsvertrag von 1989. Die Landwirtschaft blieb den einzelnen Ländern überlassen.
Das Projekt, die Länder Westeuropas wirtschaftlich zu integrieren,
hatte sein Ziel weitgehend erreicht. Die Vermutung aus dem Jahr 1960,
Brüssel werde nun beginnen, seine Bürokratie wieder abzubauen,
bewahrheitete sich allerdings nicht – ganz im Gegenteil. Es sollte ganz
anders kommen.
Neuauflage des «Jean Monnet/USA-Konzepts»
Als Charles de Gaulle 1971 starb, wurde das Jean Monnet/USA-Konzept,
wie es Albert Weitnauer bezeichnet hatte, wieder reaktiviert. Damit
ist gemeint, dass die EFTA-Länder aus politischen Gründen – nach
Anweisung der USA – nach und nach in die EWG zu integrieren seien. Im
Jahr 1973 verliessen die beiden Nato-Mitglieder Grossbritannien und
Dänemark die EFTA und wechselten – wie bereits 1960 geplant – zur
Europäischen Gemeinschaft EG. 1995 folgten auch die beiden Neutralen
Schweden und Österreich. Das Nato-Mitglied Norwegen trat zwar nicht wie
geplant bei. Die Stimmbürger hatten diesen Schritt abgelehnt. Es
beteiligte sich jedoch am EWR, der die automatische Übernahme von
EU-Recht und eine enge Anbindung an die EU vorsah – ein Schritt, den
die Stimmbürger in der Schweiz 1992 ablehnten.
Die Schweiz war deshalb Mitte der 1990er Jahre noch das letzte Gründungsmitglied der EFTA, das dem Jean Monnet/USA-Konzept nicht
gefolgt war und am ursprünglichen Weg festhielt, als souveränes
Land auf eine freiheitliche Art mit Gleichgesinnten zu kooperieren. –
Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass die Schweiz kurze Zeit später
massiv aus den USA angegriffen wurde. Jüdische Kreise bezichtigten das
Land mit einer gut orchestrierten Kampagne – tatsachenwidrig – der
Kumpanei mit Hitler im Zweiten Weltkrieg. Dieser Angriff kam den
«Monnet-Netzwerken» in den Schweizer Medien und unter den Politikern
der Schweiz nicht ganz «ungelegen», bot er ihnen doch die Chance, das
Gefühl der Eigenständigkeit und das Selbstbewusstsein der Schweizer
Bürger zu untergraben, um so den Weg für einen Beitritt zu ebnen. –
Funktioniert hat es nicht. Die Enttäuschung dieser Kreise dürfte gross
gewesen sein, als die Stimmbürger im Jahr 2001 die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen mit 76 Prozent der Stimmen ablehnten – mit
ungefähr dem gleichen Prozentsatz, mit dem sie 30 Jahre zuvor der
grossen europäischen Freihandelszone zugestimmt hatten, die die EFTA-
und die EG-Länder als gleichberechtigte Teilnehmer umfasste. –
Beitrittsverhandlungen würden heute wahrscheinlich noch weit deutlicher
abgelehnt werden.
Monnet-Manie
Wie
oben bereits erwähnt, erlebten die Europäische Gemeinschaft und die
EFTA in den Jahren nach dem Abschluss des grossen Freihandelsvertrages
von 1972 ihre besten Jahre. Die offizielle Geschichtsschreibung der EU,
die der Monnet-Doktrin folgt, sieht dies allerdings anders. Hier ist
die Rede von 25 Jahren Euro-Skeptizismus («Euro-Sklerose»), die mit der
Wahl von de Gaulle zum französischen Staatpräsidenten im Jahr 1958
begonnen habe. Erst der französische Sozialist Jacques Delors, der 1985 zum Kommissionspräsidenten ernannt wurde, habe die Gemeinschaft aus der «tiefen Krise» geführt. So steht es heute bei Wikipedia.
Delors
baute die ausufernde Bürokratie nicht – wie erwartet – ab, sondern
massiv aus. Im Juni 1989 legte er einen 3-Stufen-Plan zur Errichtung
der Wirtschafts- und Währungsunion vor und stellte die Weichen zum
Schlamassel, in dem wir heute stecken. Das Geld spielte in dieser
Politik bereits früher eine grosse Rolle: Im Verlaufe der Jahrzehnte
wurden – gut gemeint – insgesamt Billionen über die verschiedenen
Strukturfonds und später den Kohäsionsfonds in die südlichen Länder
geleitet, um «den Unternehmergeist zu stärken», wie es in den
offiziellen Programmen so schön heisst. Heute wissen wir, dass das
viele Geld sein Ziel nicht erreicht hat. Es hat im Gegenteil – wie wir
heute sehen – die Eigenständigkeit und die Eigenverantwortung dieser
Länder eher geschwächt. Ob die Gelder, die im Rahmen des EFSF und des
ESM wieder in diese Länder fliessen werden, mehr Erfolg haben werden,
ist zu bezweifeln.
Wir kennen alle
die Entwicklungsetappen der letzten Jahre: der Vertrag von Maastricht,
der EWR, die Einführung des Euro, die Verträge von Schengen und von
Lissabon, die «Bilateralen Verträge I und II» mit der Schweiz, das
Projekt der Fiskal- und Wirtschaftsunion, der EFSF und ESM – lauter
Schritte in Richtung einer immer engeren politischen Union, wie dies
bereits in der Präambel der Römischen Verträge von 1957
vorgesehen war. Aus den heute vorliegenden Dokumenten wissen wir, dass
diese Entwicklung einer politischen Strategie folgt, die letztlich aus
den USA stammt und ihre Begründung im kalten Krieg hat.
Jean
Monnet erlebte – nach Jahren der Zurücksetzung in der Zeit de Gaulles
(von 1958 bis 1969) – seine «goldenen» Jahre. Sein «Geist» und seine
Netzwerke eroberten die Redaktionsstuben der meisten Medien, viele
Parteizentralen, Regierungen und auch die Universitäten – auch in der
Schweiz. So gibt es heute an den europäischen Universitäten etwa
200 Jean-Monnet-Lehrstühle. Die meisten Medien haben ihre
Berichterstattung seit vielen Jahren einseitig ausgerichtet. Als Jean
Monnet im Jahr 1979 starb, liess François Mitterand seinen Leichnam ins
Panthéon überführen, wo er heute neben den Grössen der französischen
Politik und des Geisteslebens ruht. Die Stiftung «Jean Monnet pour
l’Europe» verleiht jedes Jahr eine Ehrenmedaille. Zu den Preisträgern
gehören neben Jacques Delors und Helmut Kohl auch Mitglieder der
Schweizer Regierung wie die Bundesräte Adolf Ogi und René Felber. Jakob
Kellenberger, vor wenigen Jahren Verhandlungsführer der
«Bilateralen I,» ist heute Vizepräsident der Stiftung «Jean-Monnet pour
l’Europe».
Geringschätzung von wahrer Grösse
Hans
Schaffner und seine Mitarbeiter, die das Gesicht der modernen Schweiz
so stark geprägt hatten, gerieten dagegen mehr und mehr in
Vergessenheit, oder die Erinnerung an ihre Politik wurde bewusst
beiseite geschoben. Seine Partei, die FDP, änderte ihr Gesicht und hat
heute Mühe, ihr Profil zu finden. Nach der EWR-Abstimmung nahm sie den
EU-Beitritt ins Parteiprogramm auf (und strich ihn vor kurzem wieder
heraus). Der heute für die Aussenpolitik zuständige Bundesrat Didier Burkhalter trat damals der Nebs
bei (und später wieder aus). Der Zweck der «Neuen europäischen
Bewegung Schweiz Nebs» ist der EU-Beitritt. Die Partei verlor seit
ihrer «Neuorientierung» in den 90er Jahren etwa einen Viertel ihrer
Wählerstimmen.
Um ihren Bundesrat
Hans Schaffner wurde es still. Heute gibt es nicht einmal eine
Biographie über ihn. In seinen letzten Lebensjahren wurde Hans
Schaffner sogar aktiv übergangen. Die Historiker der sogenannten
«Bergier-Kommission», die die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs genauer
aufarbeiten sollten, vermieden es, ihn als den damaligen Leiter der Eidgenössischen Zentrale für Kriegswirtschaft überhaupt zu konsultieren. Vermutlich befürchteten sie, wie alt Staatssekretär Franz Blankart
später in seinem Nachruf auf Hans Schaffner schrieb, «dass ihre
Vorurteile durch sein Urteil widerlegt worden wären». («NZZ» vom
30.11.2004) Es gehörte nicht zur Art von Hans Schaffner zu resignieren,
sondern er wurde – wie schon so oft – aktiv und reiste im Alter von
93 Jahren in die Höhle des Löwen nach New York. Er brachte seine
Empörung über die deplazierten Angriffe in einem Artikel in der «New
York Times» zum Ausdruck. Zeit-Fragen hat den Artikel übersetzt und ihn mit dem Titel «Die Wahrheit über die Schweiz» abgedruckt. (Zeit-Fragen Nr. 33 vom 12.8.2002) Die ersten Zeilen sollen einen Eindruck vermitteln:
«Erneut
ist eine Debatte aufgekommen, welche Massnahmen die Schweiz ergreifen
sollte, um die Forderungen der Holocaust-Opfer zu begleichen, deren
Eigentum seinen Weg auf Schweizer Banken fand. Die Zahlungen, welche
mein Land bis heute zur Verfügung stellte, sind weit herum nicht als
ehrenwerter Akt des Mitgefühls, sondern als Ausdruck eines nationalen
Schuldbewusstseins dargestellt worden. – Diese Verwirrung ist die Folge
von zwei Jahren voller Anschuldigungen, die Schweiz habe während des
Zweiten Weltkriegs mit Nazi-Deutschland kollaboriert, indem sie
jüdisches Eigentum einbehalten und Flüchtlinge schlecht behandelt habe.
Diese Anschuldigungen beruhen auf keinerlei neuen Informationen. Alle
wichtigen Einzelheiten sind seit 1946 bekannt. Was neu ist, ist die
Flut von Groll gegen die Schweiz und die Ignoranz, die dieser zugrunde
liegt. – Da ich die Schweizer Kriegswirtschaft in den bedrohlichen
Jahren des Zweiten Weltkriegs leitete, als wir Vorbereitungen gegen
einen Angriff der Nazis zu treffen hatten, bin ich entsetzt zu sehen,
wie durchweg falsch das Verhalten der Schweiz in der Zeit des Krieges
dargestellt wird. Es ist an der Zeit, die Dinge richtigzustellen: […].
Eigenständige Bevölkerung
Die Bevölkerung der Schweiz liess sich von der Monnet-Manie
nicht anstecken – trotz der permanenten Berieselung der Medien blieb
sie meistens sachlich. Im Jahr 1992 lehnten die Stimmbürger den EWR ab,
obwohl das Parlament das erste Mal in der Geschichte des Bundesstaates
Steuergelder für eine massive Ja-Propaganda bewilligt hatte. Im Jahr
2001 lehnten sie mit 76 Prozent die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
ab. Die Stimmbürger stimmten den «Bilateralen Verträgen I und II» zu.
Diese bilateralen Verträge haben jedoch eine andere Qualität als die
früheren. Alt Staatsekretär Franz Blankart, der Verhandlungsführer des
EWR, stellte vor kurzem fest: «Die [bilateralen] Verträge mit der EU
wurden unter der impliziten Annahme ausgehandelt, dass die Schweiz in
absehbarer Zeit Mitglied der EU sein werde, weshalb der gestaltenden
Mitwirkung kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde.» (NZZ am Sonntag vom 25.10.2009) – Die Schweiz tut sich schwer, ihren Weg zu finden.
In
den meisten Ländern wurden die Stimmbürger zur Europapolitik gar nicht
gefragt, oder die Abstimmung wurde wie in neuerer Zeit auch in der
Schweiz mit einer riesigen Regierungspropaganda beeinflusst.
Die «Methode Schaffner» als ein Schlüssel zum Verständnis des Erfolgs der Schweiz
Heute
sieht manches wieder anders aus. Die EU ist in der Krise. Der Euro
funktioniert nicht – und manches andere in der EU auch nicht. Die
«Methode Monnet» ist auf dem Prüfstand. Die EFTA – heute mit noch vier
Mitgliedern – setzt ihre Freihandelspolitik fort. Sie hat in den
letzten Jahren eine Vielzahl von individuell ausgehandelten
Freihandelsverträgen mit Staaten auf der ganzen Welt abgeschlossen, die
die Besonderheiten der jeweiligen Vertragspartner berücksichtigen. Die
Verhandlungen mit China sind vor kurzem abgeschlossen worden. Der
Vertrag mit Indien steht vor dem Abschluss. Verhandlungen mit Russland
sind im Gange. (Vergleiche auch: «Europa am Scheideweg: Mehr
Eigenverantwortung und freiheitliche Zusammenarbeit zwischen souveränen
Nationen» in Zeit-Fragen vom 24.10.2011).
Das
grosse Netzwerk der Verträge umfasst heute den grössten Teil des
Globus. Die EFTA muss deshalb auch den Vergleich mit der WTO nicht
scheuen. Die Welthandelsorganisation versucht seit vielen Jahren
vergeblich, den Freihandel in ein einheitliches, globales Korsett zu
schnüren, das den einzelnen Mitgliedern offensichtlich nicht gerecht
wird. Die «Methode Schaffner» dagegen verdient es, zur Kenntnis
genommen zu werden. Sie ist heute ein Schlüssel zum Verständnis des
Erfolgs der Schweiz.
Globale Herausforderung
Auch
im Osten arbeiten die Länder der ASEAN auf eine ähnliche Weise wie die
EFTA zusammen – mit Erfolg. Diese Länder steckten 1998 wie heute die
EU in einer schweren Krise, die als Asien-Krise in die
Geschichte einging. Sie haben es eigenverantwortlich geschafft, ihre
ebenfalls riesigen Schuldenberge in den Griff zu bekommen, ohne
zweifelhafte Instrumente wie EFSF, ESM oder Euro-Bonds einsetzen zu
müssen. Die meisten sind praktisch schuldenfrei und haben in den letzten
Jahren Reserven gebildet, um den Herausforderungen der Zukunft
gewachsen zu sein. «Europa» wird es sich nicht leisten können, seine
Augen davor zu verschliessen.
Wie
die Dokumente heute zeigen, ist das «Jean Monnet/USA-Konzept» ein
Produkt des kalten Krieges und zu einem erheblichen Teil von den USA
fremdbestimmt. Es ist höchste Zeit, dieses Konzept kritisch zu
hinterfragen, um den Herausforderungen dieses Jahrhunderts gewachsen zu
sein. Der kalte Krieg ist längst Geschichte. Vielleicht braucht die
Bevölkerung in der EU ähnlich wie in der DDR vor zwanzig Jahren – eine
Art «Mauerfall», um sich von den einengenden Strukturen und der
Fremdbestimmung zu befreien.
Oder wie es bei Voltaire oder bei Immanuel Kant so schön heisst: «Aufklärung bedeutet Aufbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.»
Im
vierten und letzten Beitrag zum Thema «Europäische Integration» kehren
wir wieder zurück ins Jahr 1969. Minister Albert Weitnauer, ein enger
Mitarbeiter von Hans Schaffner, versammelte die Schweizer Botschafter
am 5. September 1969 zu einer eigentlichen Staatskundelektion zum Thema
«Europäische Integration». (dodis.ch/30861) Er warf die Grundsatzfrage
auf: Gibt es in Europa genügend staatsbildende Elemente, die es
erlauben, auf dem Weg zu den «Vereinigten Staaten von Europa» weiter zu
schreiten? Er wies darauf hin, dass das europäische
Zusammengehörigkeitsgefühl, der politische Wille der Bevölkerung, das
Wirken von Führungspersönlichkeiten und ähnliches als unabdingbare
Bausteine vorhanden sein müssten, um so etwas wie einen Bundesstaat
aufbauen zu können. Er entwickelte vor 43 Jahren eine in der Politik
seltene Weitsicht. Davon mehr im nächsten Artikel. •
1 Das GATT
führte – wie heute ihre Nachfolgeorganisation WTO – in Abständen von
einigen Jahren Verhandlungsrunden durch, um ihre Verträge anzupassen
und weiterzuentwickeln. Die bekanntesten sind die Kennedy-Runde (1962–1967), die Uruguay-Runde (1986–1994) und heute die Doha-Runde (2001–2011).
Europäische Integration (Teil 4)
Das «europäische Orchester» wieder zum Klingen bringen
Europäische Integration (Teil 4)
Kleine Staatskundelektion für Europa aus Schweizer Sicht
von Dr. iur. Marianne Wüthrich und Dr. rer. publ. Werner Wüthrich
«Zeit-Fragen»
hat sich in den letzten Wochen in drei Beiträgen mit dem Thema
«Europäische Integration» auseinandergesetzt. Sie als geschätzte
Leserin oder Leser haben die «Methode Monnet» kennengelernt – als
Schlüssel zum Verständnis der Euro-Krise (Teil 1 vom 12.12.2011). In
den zwei folgenden Artikeln haben Sie zwei grundsätzlich verschiedene
Ansätze im geschichtlichen Kontext kennengelernt, die Länder Europas zu
organisieren – das Konzept der europäischen Gemeinschaft und das der
EFTA, der europäischen Freihandelsassoziation (Teil 2 und 3 vom 17.1.
und 30.1.2012). In den folgenden Zeilen geht es um die
staatspolitischen Grundsätze dieser beiden Konzepte, von denen das eine
eher zentralistisch und das andere freiheitlich ausgerichtet ist. Das
Verständnis dieser Grundlagen wird helfen, die drängenden Aufgaben
von heute zu bewältigen.
Für
den Ausgangspunkt kehren wir zurück ins Jahr 1969. Minister Albert
Weitnauer, einer der engsten Mitarbeiter von Bundesrat Hans Schaffner,
versammelte die Schweizer Botschafter am 5. September zu einer
eigentlichen Staatskundelektion zum Thema «Europäische Integration».
Wir stützen uns auch in diesem Artikel wieder auf die Dokumente der
Sammlung «Diplomatische Dokumente der Schweiz», die in Zusammenarbeit
mit dem Bundesarchiv erstellt wurde und elektronisch abrufbar ist
(www.dodis.ch).
Weitnauer stellte
den Botschaftern die Grundsatzfrage: Gibt es in Europa genügend
staatsbildende Elemente, die es erlaubten, auf dem Weg zu den
«Vereinigten Staaten von Europa» voranzuschreiten? – Zu einem
funktionierenden Staat gehören ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und
eine Staatsgewalt, die aus demokratischen Wahlen hervorgeht und die
eine verfassungsmässige Grundlage hat. Weitnauer wies darauf hin, dass
das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl, der politische Wille, das
Wirken von Führungspersönlichkeiten und ähnliches als unabdingbare
Bausteine vorhanden sein müssten, um so etwas wie einen Bundesstaat
aufbauen zu können. Folgen wir seinen Überlegungen (dodis.ch/30861):
Zusammengehörigkeitsgefühl
Notwendig für
die Staatsbildung ist laut Weitnauer das Gefühl der
Zusammengehörigkeit, das sich auf eine gemeinsame Sprache, ein
gemeinsames historisches Schicksal oder auf eine früher bestehende
Eigenstaatlichkeit stützt: «Es besteht in Europa gewiss ein subtiles
Gefühl der Zusammengehörigkeit, und es hat immer bestanden. Europa ist
ohne Zweifel wenn keine politische, so doch eine geistige und
kulturelle Einheit, und es gibt zweifellos so etwas wie ein gemeinsames
europäisches Lebensgefühl, trotz der Vielfalt der Einzelausprägungen
des europäischen Geistes und seiner kulturellen Schöpfungen. Als
elementare Schicksalsgemeinschaft hat sich Europa und gar als im Grunde
ein einziges Volk haben sich die Europäer bisher nie empfunden. […]
Man hat heute nicht den Eindruck, als fühlten sich die Norweger und
die Portugiesen, die Italiener und die Irländer auch nur annähernd im
gleichen Grade als Schicksalsgemeinschaft und darüber hinaus als
angehörige desselben Volkes, wie z.B. die Amerikaner oder die Russen
unter sich. Auch die Tatsache, dass in Brüssel – übrigens in mancher
Hinsicht erfolgreich – ein riesiges Werk der Wirtschaftsintegration
geschaffen worden ist, hat daran nicht viel geändert.» – Heute können
wir uns dieser Einschätzung anschliessen.
Politischer Wille
Ein Staat kann sich – so
Weitnauer – bilden, wenn «der konsequente politische Wille – der
unentbehrliche und beharrliche Wille – der grossen Mehrheit des Volkes
oder der Völker Leben gewinnt, bis der neue Staat Gestalt annimmt».
Ein blosses Strohfeuer oder ein gelegentlicher Ausbruch der
Begeisterung genüge nicht.
Dazu ist
folgendes zu sagen: Der politische Wille ist nur mit Volksabstimmungen
und in Wahlen feststellbar, die in der EU nicht oder nur
ausnahmsweise stattfinden. Es genügt nicht, wenn EU-Politiker davon
sprechen, dass die «Europäer» dies oder jenes wollten. Es genügt
nicht, dass in den Römischen Verträgen von 1957 steht, die
Verträge würden abgeschlossen, um die Grundlagen zu legen für eine
immer engere politische Union («déterminés à établir les fondements
d’une union sans cesse plus étroite entre les peuples européens»). Die
Bevölkerung in den beteiligten Ländern hat nie darüber abgestimmt.
Heute
wird die EU gelegentlich mit der Gründung des schweizerischen
Bundesstaates im Jahr 1848 verglichen. Dieser Vergleich ist fehl am
Platz. Damals hat die Bevölkerung in allen Kantonen abgestimmt. Die
wenigen Kantone, die nicht zugestimmt haben, mussten gewonnen werden,
mitzumachen. Das geschah zum Beispiel, indem kleine Kantone im
Ständerat gleich viele Sitze erhielten wie die grossen.
Führungspersönlichkeiten
Politiker mit einem gewissen Format könnten – so Weitnauer – integrierend wirken. So hätten zum Beispiel der Staatsmann Camillo Cavour und der Freiheitskämpfer und Volksheld Giuseppe Garibaldi bei der Einigung von Italien im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle gespielt. Das gleiche liesse sich von Otto von Bismarck
sagen bei der Einigung von Deutschland. «Aber heute gibt es den
dominierenden Staatsmann nicht, der in der Lage ist, die Vereinigten
Staaten aus der Taufe zu heben, und es hat ihn seit den Römer Verträgen nicht gegeben.» Daran hat sich bis in unsere Zeit nichts geändert.
Äussere Bedrohung
Kriege
oder mögliche Kriege könnten staatsbildend wirken, indem sie auf die
Völker Druck ausüben, sich enger zusammenzuschliessen. Der kalte Krieg
– so Weitnauer – sei Pate gestanden für die Gründung der EWG und die
Einrichtung ihrer zentralistischen und supranationalen Strukturen.
Dieses Element sei jedoch nicht von Dauer und in Europa bei weitem
nicht stark genug, um wirklich staatsbildend zu sein. Zudem war die
Gründung der EWG im Jahr 1957 ein Entscheid der Politiker.
Fazit: Alle von Weitnauer als notwendig erachteten Voraussetzungen für eine Staatsbildung sind nicht gegeben.
Auswirkung der 68er Bewegung
Minister
Albert Weitnauer nahm in seinen Ausführungen auch Bezug auf die 68er
Unruhen und stellte folgendes fest: «Die moderne Jugend ist
geschichtslos, in einem viel höheren Grade, als es die jungen Leute
sonst zu sein pflegen. Sie glauben, den grossen Zeitproblemen
voraussetzungslos gegenüberzutreten, und sie behaupten, sich nicht um
Landesgrenzen und nationale Verschiedenheiten zu kümmern. Die
Menschheit als solches ist Zweck und Ziel ihres Denkens. Warum sollte
nicht – so würde die These lauten – diese Jugend, wenn sie einmal zu
Amt und Verantwortung gelangt ist, unterstützt durch die Triumphe der
Technik und die Schrumpfung aller Distanzen, ‹tabula rasa› mit allen
scheinbaren Hindernissen des europäischen Zusammenschlusses machen und –
sozusagen spielend – das erreichen, was in der jahrtausendalten
Geschichte unseres Kontinentes nie gelungen ist?» – Weitnauer betonte,
dass er nicht an diese These glaube, «weil die menschliche Natur
gewisse Konstanten aufweist und oft gerade die wildesten Hitzköpfe mit
wachsendem Alter zu den konservativsten Elementen der Gesellschaft
werden.»
Die Geschichtslosigkeit,
die Weitnauer damals beklagt, zeigt sich in neuerer Zeit in den
Schulen, wo Schweizer Geschichte gar nicht mehr oder immer weniger
unterrichtet wird. 1973 wurde der Lehrstuhl für Schweizer Geschichte
an der Universität Zürich abgeschafft. Das hat Folgen: Wem
geschichtliches Denken fehlt, der ist nicht fähig, Gesellschaften
menschengerecht einzurichten.
Erstaunlicher Weitblick
Es werde von
grösstem Interesse sein – führte Weitnauer im Jahr 1969 aus –, in den
nächsten Jahren zu verfolgen, ob die Europäische Gemeinschaft von der
Zoll- zur Wirtschaftsunion vordringen werde. Sollte dies geschehen,
würde die nationalstaatliche Souveränität der Länder viel drastischer
beschnitten werden müssen. Der neuralgische Punkt sei die Finanz- und
insbesondere Fiskalpolitik. Es werde kritisch werden, sobald die
Mitgliedstaaten Entscheidungskompetenz im finanziellen Bereich an die
Kommission übertragen. Dasselbe gelte für eine «koordinierte
Wirtschaftspolitik» und eine «gemeinsame Währungspolitik». Weitnauer:
«Hier liegt der Prüfstein, ob es der Technokratie gelingen kann,
staatsbildend zu wirken, und ob sie ein Ersatz ist für den nicht
vorhandenen europäischen Patriotismus und das europäische
Vaterlandsbewusstsein und all die hohen Gefühle […], die sie im
Menschen zu wecken und wach zu halten vermögen.»
Heute
– 42 Jahre später – befindet sich die EU genau an diesem Punkt. Die
EU will eine Art Wirtschaftsregierung einrichten, beschliesst eine
Fiskalunion und diskutiert über einen EU-Haushaltskommissar, der im
Krisenfall direkt in den Finanzhaushalt der Mitgliedländer eingreifen
kann.
Wie wir heute sehen, ist es
nicht wirklich gelungen, staatsbildend zu wirken, wie der Schweizer
Albert Weitnauer 1969 mit erstaunlichem Weitblick aufgezeigt hat. Und
zwar weil es nicht möglich ist, über ein bürokratisches Konstrukt
völkerverbindendes Bewusstsein zu erzeugen. Ein stures Weiterschreiten
auf diesem Weg ändert daran nichts, sondern es erzeugt im Gegenteil
unberechenbare Gefahren.
Wirtschaft und Politik müssen getrennt werden
Folgen
wir den weiteren Überlegungen von Albert Weitnauer: «Europa braucht
gewisse, gerade auf politischem Gebiet intensive Zusammenarbeit,
grösseres gegenseitiges Vertrauen, mehr Einigkeit.» Es gebe jedoch kein
Entrinnen vor der Gretchenfrage, ob der Wille zur politischen
Integration vorhanden sei oder nicht.
Bei
so weitgehender Abtretung nationalstaatlicher Souveränität, wie sie
heute in der EU im Gange ist, kann der politische Wille
notwendigerweise in allen Ländern nur durch Volksabstimmung
festgestellt werden.
Weitnauer
bezweifelte mit Recht, ob wirtschaftliche Projekte mit ungewissem
Ausgang – wie zum Beispiel eine Wirtschafts- und Währungsunion –
staatsbildend sein könnten. Bevölkerung und Politik würden sich nicht
überlisten lassen. Bundesrat Hans Schaffner hatte bereits in
einer früheren Botschafterkonferenz darauf hingewiesen, dass eine
solche «Überlistung» ein «ausserordentlich umwegreicher und
schwieriger Prozess» sein würde (dodis.ch/30358). Weitnauer
betonte, es sei gefährlich, wirtschaftliche Projekte als Hebel zu
benutzen, um politische Wirkungen zu erzielen. Beide, Weitnauer und
Schaffner, plädierten in der Frage der europäischen Integration für
eine strikte Trennung von Wirtschaft und Politik. Das heisst, sie
plädierten für eine liberale Marktwirtschaft im Rahmen einer
politischen Ordnung, die die Souveränität, die Eigenverantwortung und
die vielfältigen Besonderheiten in jedem Land respektiert.
Fehlendes Demokratieverständnis
Jean
Monnet und den US-Strategen hinter ihm fehlte eine solche humane
Gesinnung. Für sie hatten kleinere und grössere wirtschaftliche
Projekte mit ungewissem Ausgang (wie zum Beispiel heute die
Währungsunion) die Funktion eines Hebels, der politisch Druck erzeugt,
um auf dem Weg zu den «Vereinigten Staaten von Europa»
voranzuschreiten. So wird Monnet häufig mit den Worten zitiert: «L’homme
n’accepte le changement que sous l’empire de la nécessité.»1
(Der Mensch akzeptiert Veränderungen nur unter dem Druck der
Notwendigkeit.) Wer so denkt, dem fehlt es an Demokratieverständnis.
(Dazu mehr, in: «Die Methode Monnet – als Schlüssel zum Verständnis der
Euro-Krise», in: Zeit-Fragen vom 12. Dezember 2011.)
Das
Demokratieverständnis fehlte bereits bei der Gründung der
Europäischen Gemeinschaft. Die Bevölkerung hat – wie oben schon
erwähnt – über die Römischen Verträge nie abgestimmt, obwohl
diese über einen reinen Wirtschaftsvertrag weit hinausgingen und
politische Weichen gestellt haben. Die politische Situation war damals
keineswegs eindeutig. Im Sommer 1958 haben die Regierungen aller
Länder in Westeuropa – auch die sechs Länder der EWG – noch
zugestimmt, im Rahmen der OEEC eine Freihandelszone einzurichten und
als souveräne Nationen zusammenzuarbeiten. Wie die heute zugänglichen
Dokumente in der Schweiz zeigen, haben die USA das Veto gegen diesen
freiheitlichen Weg eingelegt.
Das europäische Konzert wieder zum Klingen bringen
Der
Schweizer Chefbeamte Albert Weitnauer erkannte, dass das
Zusammenspiel der europäischen Länder am besten klingt, wenn diese
sich als eigenständige und souveräne Nationalstaaten einbringen. Für
de Gaulle war dies das «Europa der Vaterländer», für Weitnauer und
Schaffner war es die EFTA: «Es müsste sich um ein System handeln, in
dem jeder Staat und jede Staatengruppe mit ihren Besonderheiten – und
ihrer sind manche in einem so vielgestalteten Erdteil – ihren Platz
finden würde.» Die Errichtung eines neuen Staatensystems in und um
Europa sei das Werk höchster politischer Kunst. «Es wird sehr
begabter Interpreten bedürfen, um das europäische Konzert wieder zu
Gehör zu bringen.»
Die Misstöne von
heute werden kaum verschwinden, solange die Instrumente falsch
gestimmt sind. Die Musik in der europäischen Politik zum Klingen zu
bringen, dürfte zu den vornehmsten Aufgaben der nächsten Jahre
gehören, und kein Weg wird daran vorbeiführen, auch die Bevölkerung
einzubeziehen. •
1 Eric Roussel, Jean Monnet, S. 68, Paris 1996
***
Die EU-Mitglieder haben bereits heute einen grossen Teil ihrer Souveränität an die Zentrale abgegeben. Entsprechend haben sie in manchen Ländern ihre Eigenverantwortung abgebaut. In der Euro- und Schuldenkrise hat sich diese Einstellung als fatal erwiesen. Dieses Manko an Eigenverantwortung kann mit einem Mehr an Überwachung und Bevormundung nicht wettgemacht werden. Dieser Weg verhindert ein Zusammenleben in Freiheit und Würde, wofür gerade die griechische Kultur vor mehr als 2000 Jahren in Europa den Boden bereitet hat.
Es ist zu hoffen, dass solche Überlegungen am Krisengipfel in Brüssel in die Erwägung mit einbezogen werden und dass bei wegweisenden Beschlüssen die Stimmbürger das letzte Wort haben. •
***
***
Das «europäische Orchester» wieder zum Klingen bringen
Europäische Integration (Teil 5)
Politische Union oder Rückbau von offensichtlichen Fehlentwicklungen?
von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich
Am 28. und 29. Juni findet in Brüssel der
EU-Krisen-Gipfel statt. Bundeskanzlerin Merkel kündigt einen Arbeitsplan
für eine politische Union an. Es werde um «mehr Europa» gehen. «Wir
brauchen nicht nur eine Währungsunion, sondern wir brauchen eine
sogenannte Fiskalunion, also mehr gemeinsame Haushaltspolitik», sagte
sie in der ARD. Vor allem sei aber eine politische Union nötig. Das
bedeute, Kompetenzen an Brüssel abzugeben.
Neu ist das nicht. Kreise, die die europäischen Nationalstaaten mehr und mehr in einer politischen Union aufgehen lassen wollen, nutzen die Euro-Krise seit längerem für ihre Zwecke. Die Krise dränge die Mitgliedsländer zu einer politischen Union, sagen sie. Weitere Kompetenzen im Fiskal- und Finanzbereich müssten zwingend an Brüssel abgegeben werden. Euro-Bonds, für die alle gemeinsam haften, gehörten dazu. Jean Monnet hatte vor fünfzig Jahren Ähnliches gesagt: «Der Mensch akzeptiert Veränderungen nur unter dem Druck der Notwendigkeit.» Ökonomische Krisen würden als Hebel dienen, um weitere Integrationsschritte zu erzwingen (vgl. Zeit-Fragen 12.12.2011). Diese Kreise sind nun im Vormarsch. Nur – ist eine Krise wirklich eine tragfähige Basis für die Gründung einer politischen Union?
Nüchterne Betrachter und Politiker dagegen besinnen sich darauf, was in Europa funktioniert und was nicht – und machen sich mutig daran, offensichtliche Fehlentwicklungen zurückzubauen. – Quo vadis, Europa?
In der Artikelfolge «Das europäische Orchester wieder zum Klingen bringen» (vom 12.12.2011, vom 3., 17. und 30.1.2012) hat Zeit-Fragen grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens in Europa in ihrer geschichtlichen Entwicklung beleuchtet. In den folgenden Zeilen sollen die wichtigsten Gedanken daraus zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Es ist sinnvoll, die Vorgeschichte zu kennen, bevor wegweisende Entscheidungen getroffen werden.
Neu ist das nicht. Kreise, die die europäischen Nationalstaaten mehr und mehr in einer politischen Union aufgehen lassen wollen, nutzen die Euro-Krise seit längerem für ihre Zwecke. Die Krise dränge die Mitgliedsländer zu einer politischen Union, sagen sie. Weitere Kompetenzen im Fiskal- und Finanzbereich müssten zwingend an Brüssel abgegeben werden. Euro-Bonds, für die alle gemeinsam haften, gehörten dazu. Jean Monnet hatte vor fünfzig Jahren Ähnliches gesagt: «Der Mensch akzeptiert Veränderungen nur unter dem Druck der Notwendigkeit.» Ökonomische Krisen würden als Hebel dienen, um weitere Integrationsschritte zu erzwingen (vgl. Zeit-Fragen 12.12.2011). Diese Kreise sind nun im Vormarsch. Nur – ist eine Krise wirklich eine tragfähige Basis für die Gründung einer politischen Union?
Nüchterne Betrachter und Politiker dagegen besinnen sich darauf, was in Europa funktioniert und was nicht – und machen sich mutig daran, offensichtliche Fehlentwicklungen zurückzubauen. – Quo vadis, Europa?
In der Artikelfolge «Das europäische Orchester wieder zum Klingen bringen» (vom 12.12.2011, vom 3., 17. und 30.1.2012) hat Zeit-Fragen grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens in Europa in ihrer geschichtlichen Entwicklung beleuchtet. In den folgenden Zeilen sollen die wichtigsten Gedanken daraus zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Es ist sinnvoll, die Vorgeschichte zu kennen, bevor wegweisende Entscheidungen getroffen werden.
Jean Monnet
Zentral für die aktuelle Entwicklung ist die Person
von Jean Monnet, dessen Wirken heute als Schlüssel für das Verständnis
der Euro-Krise betrachtet werden kann. Nach seinen Vorstellungen sollten
die Nationen Europas – Schritt für Schritt – zu einer immer «engeren
Union», das heisst zu einer Art Bundesstaat, zusammengefügt werden.
Dieses Konzept folgte – wie heute in der Schweiz zugängliche Dokumente
zeigen – der strategischen Planung der USA nach dem Zweiten Weltkrieg.
Jean Monnet lebte mehr als zwanzig Jahre in den USA und pflegte hier enge Kontakte zur wirtschaftlichen und politischen Führungselite. Er übte in der Finanzbranche wichtige Funktionen aus. Er war Vizepräsident einer Grossbank und gründete selbst eine eigene Bank. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er in hoher Position in der amerikanischen Kriegswirtschaft. Er war eng befreundet mit dem späteren amerikanischen Aussenminister John Foster Dulles.
Politiker in der Schweiz um Bundesrat Schaffner (und mit ihnen eine Vielzahl von Politikern in andern Ländern Europas) strebten dagegen eine freiheitliche Kooperation an, um das «europäische Orchester» nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges wieder zum Klingen zu bringen. Sie sahen die europäische Integration eher in einem gleichberechtigten, freundschaftlichen Zusammenwirken von souveränen Nationen. Dieses politische Denken prägte die OEEC und führte 1960 zur Gründung der EFTA.
Die USA als führende Weltmacht steuerten im Hintergrund das Geschehen. Sie favorisierten die Idee der EWG und bekämpften die Idee einer Freihandelszone, in der die europäischen Nationen als souveräne Staaten zusammenarbeiteten. Sie versuchten aktiv, die EFTA zu verhindern, weil sie nicht in ihr weltpolitisches Konzept passte, und arbeiteten nach ihrer Gründung im Jahr 1960 auf deren Wiederauflösung hin. Nach den Vorstellungen der USA sollte Europa die «Kleinstaaterei» überwinden und im weltpolitischen Kräftespiel einen einheitlichen politischen Block bilden. Jean Monnet verkündete diese Botschaft unermüdlich bis zu seinem Tod im Jahr 1978 – vor allem über seine länderübergreifenden Netzwerke, die er unermüdlich aufgebaut hatte. Auch die Schweiz war von Anfang an dabei. Jean Monnet errichtete 1957 in Lausanne das Büro für sein «Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa». Wenig später kam ein Dokumentationszentrum dazu, wo heute die Gründungsdokumente der Montanunion und der EWG aufbewahrt werden. Die Ford-Stiftung aus den USA finanzierte das Zentrum für Europäische Studien. 1978 gründete Monnet hier die «Fondation Jean Monnet pour l’Europe». Die Ferme de Dorigny ist heute ein Treffpunkt zur Pflege des Gedankenguts von Jean Monnet.
Jean Monnet lebte mehr als zwanzig Jahre in den USA und pflegte hier enge Kontakte zur wirtschaftlichen und politischen Führungselite. Er übte in der Finanzbranche wichtige Funktionen aus. Er war Vizepräsident einer Grossbank und gründete selbst eine eigene Bank. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er in hoher Position in der amerikanischen Kriegswirtschaft. Er war eng befreundet mit dem späteren amerikanischen Aussenminister John Foster Dulles.
Politiker in der Schweiz um Bundesrat Schaffner (und mit ihnen eine Vielzahl von Politikern in andern Ländern Europas) strebten dagegen eine freiheitliche Kooperation an, um das «europäische Orchester» nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges wieder zum Klingen zu bringen. Sie sahen die europäische Integration eher in einem gleichberechtigten, freundschaftlichen Zusammenwirken von souveränen Nationen. Dieses politische Denken prägte die OEEC und führte 1960 zur Gründung der EFTA.
Die USA als führende Weltmacht steuerten im Hintergrund das Geschehen. Sie favorisierten die Idee der EWG und bekämpften die Idee einer Freihandelszone, in der die europäischen Nationen als souveräne Staaten zusammenarbeiteten. Sie versuchten aktiv, die EFTA zu verhindern, weil sie nicht in ihr weltpolitisches Konzept passte, und arbeiteten nach ihrer Gründung im Jahr 1960 auf deren Wiederauflösung hin. Nach den Vorstellungen der USA sollte Europa die «Kleinstaaterei» überwinden und im weltpolitischen Kräftespiel einen einheitlichen politischen Block bilden. Jean Monnet verkündete diese Botschaft unermüdlich bis zu seinem Tod im Jahr 1978 – vor allem über seine länderübergreifenden Netzwerke, die er unermüdlich aufgebaut hatte. Auch die Schweiz war von Anfang an dabei. Jean Monnet errichtete 1957 in Lausanne das Büro für sein «Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa». Wenig später kam ein Dokumentationszentrum dazu, wo heute die Gründungsdokumente der Montanunion und der EWG aufbewahrt werden. Die Ford-Stiftung aus den USA finanzierte das Zentrum für Europäische Studien. 1978 gründete Monnet hier die «Fondation Jean Monnet pour l’Europe». Die Ferme de Dorigny ist heute ein Treffpunkt zur Pflege des Gedankenguts von Jean Monnet.
Charles de Gaulle
Eine weitere Persönlichkeit spielte in diesem Ringen
um die Zukunft Europas eine wegweisende Rolle – der französische
Staatspräsident Charles de Gaulle. Er verfolgte in der Frage der
europäischen Integration die Vision eines «Europas der Vaterländer» und
vertrat damit eine ähnliche Linie wie die EFTA.
Mit Jean Monnet und Charles de Gaulle wirkten in Paris zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten mit gegensätzlichen Vorstellungen, wie das Zusammenleben der europäischen Völker zu organisieren sei: Das «Europa der Vaterländer» oder die «Vereinigten Staaten von Europa». Diese beiden Visionen standen und stehen sich auch heute nach wie vor als Gegensätze gegenüber. Die Medien bezeichneten damals die Konfrontation der beiden Kontrahenten als «Duell des Jahrhunderts» (vgl. Zeit-Fragen vom 26. März).
Mit Jean Monnet und Charles de Gaulle wirkten in Paris zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten mit gegensätzlichen Vorstellungen, wie das Zusammenleben der europäischen Völker zu organisieren sei: Das «Europa der Vaterländer» oder die «Vereinigten Staaten von Europa». Diese beiden Visionen standen und stehen sich auch heute nach wie vor als Gegensätze gegenüber. Die Medien bezeichneten damals die Konfrontation der beiden Kontrahenten als «Duell des Jahrhunderts» (vgl. Zeit-Fragen vom 26. März).
Erfolg der wirtschaftlichen Integration
Die Europäische Gemeinschaft erscheint heute im
geschichtlichen Rückblick – auch aus der Sicht eines EU-Skeptikers –
nicht ohne Glanz. Mancherlei Hindernisse an den Landesgrenzen sind
Schritt für Schritt abgebaut worden. Der Austausch von Gütern und
Dienstleistungen wurde erleichtert. Technische Unterschiede und
Handelshemmnisse wurden beseitigt, so dass das Leben in Europa einfacher
wurde. Der wirtschaftliche Schulterschluss war in mancherlei Hinsicht
erfolgreich und wird heute breit akzeptiert.
1989 – fatale Weichenstellung
Im Jahr 1989 haben die Verantwortlichen in Brüssel
ganz im Sinne Monnets Entscheidungen getroffen, die gravierende
Auswirkungen und letztlich zum Schlamassel geführt haben, den wir heute
erleben. Der neu gewählte Kommissionspräsident Jacques Delors legte
einen Dreistufenplan zur Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion
vor, der im Vertrag von Maastricht (1992) sein erstes Etappenziel
erreichte. Die «immer engere Union der Völker Europas» (wie sie in den
Römischen Verträgen festgehalten ist) erhielt nun mehr und mehr ein
politisches Gesicht. Es ging nicht nur um eine gemeinsame Währung.
Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik und Angleichungen in den
Bereichen Justiz und Inneres kamen dazu. Es zeigte sich bald, dass sich
diese Politik auf dünnem Eis bewegte.
Dänemark und Grossbritannien machten bei der Währungsunion nicht mit. Länder, die nicht hineingehörten, wurden in die Währungsunion aufgenommen. Länder, die die Bedingungen erfüllten, machten dagegen nicht mit. Die Stimmbürger in der Schweiz, die 1972 der grossen Freihandelszone zwischen den Ländern der EG und der EFTA noch mit 71 Prozent zugestimmt hatten, lehnten nun den Beitritt zum EWR ab. Im Gegensatz zum Freihandelsabkommen, das zwischen souveränen Ländern abgeschlossen wurde, sah der EWR die automatische Übernahme von EU-Recht und damit eine politische Einbindung vor.
Dänemark und Grossbritannien machten bei der Währungsunion nicht mit. Länder, die nicht hineingehörten, wurden in die Währungsunion aufgenommen. Länder, die die Bedingungen erfüllten, machten dagegen nicht mit. Die Stimmbürger in der Schweiz, die 1972 der grossen Freihandelszone zwischen den Ländern der EG und der EFTA noch mit 71 Prozent zugestimmt hatten, lehnten nun den Beitritt zum EWR ab. Im Gegensatz zum Freihandelsabkommen, das zwischen souveränen Ländern abgeschlossen wurde, sah der EWR die automatische Übernahme von EU-Recht und damit eine politische Einbindung vor.
Korrekturen ohne Ende
Nach «Maastricht» schritten die Verantwortlichen auf
ihrem Weg zu einer politischen Union stetig voran. Im Vertrag von
Amsterdam (1999) nahm die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik
konkrete Formen an. Der freie Personenverkehr mit dem Unions-Bürgerrecht
und verbunden mit der Migrations-, Asyl- und Zuwanderungspolitik wurden
umgesetzt. Der Vertrag von Nizza (2003) brachte eine Vielzahl von
«Reparaturen» der vorherigen Verträge und brach mit dem
Einstimmigkeitsprinzip. Abstimmungen mit qualifiziertem Mehr wurden
möglich. Diesmal legten sich die Iren quer und mussten belehrt werden.
2005 lehnten die Stimmbürger in Frankreich und in den Niederlanden den
«Verfassungsentwurf für Europa» deutlich ab, so dass auf
Volksabstimmungen in weiteren Ländern wohlweislich verzichtet und die
«Übung» schliesslich ganz abgebrochen wurde. Das war ein deutliches
Signal. Aus diesem Fiasko ging der Vertrag von Lissabon (2009) hervor,
in dem zentrale Bestimmungen aus dem abgelehnten «Verfassungsentwurf»
einfach in die bisherigen Verträge übertragen wurden. Die Iren sagten
erneut nein. Die EU setzte die Iren erneut moralisch unter Druck, machte
wieder einige Zugeständnisse, so dass diese letztlich wieder ja sagten.
Auch heute besteht hinsichtlich der geplanten Fiskal- und Transferunion
keine Einigkeit. Einige Staaten wollen sie ausserhalb der Verträge
verwirklichen. Ende Juni findet in Brüssel ein Krisengipfel statt: Wie
Bundeskanzlerin Merkel den Medien mitteilte, liegt ein Arbeitsplan zur
Errichtung einer politischen Union auf dem Verhandlungstisch. Nur – das
Flickwerk der Verträge und die ständigen Korrekturen und «Reparaturen»,
die niemand mehr überblickt, sind nicht geeignet, wirklich Vertrauen
aufzubauen.
Welches «Europa» wollen die Bürger wirklich?
Wollen die europäischen Völker eine politische
Union, oder wollen sie sie nicht? Nichts führt heute an dieser
Gretchenfrage vorbei. Wankelmütige Politik, die Ereignisse der letzten
Jahre, das Stimmungsbild, die zahlreichen Misstöne und Zerwürfnisse
geben die Antwort: Es gibt kein Volk mit einem europäischen
Vaterlandsbewusstsein, das diese Union tragen und für die es einstehen
würde. Ohne Volk gibt es keine Demokratie, ist doch dieser Begriff aus
dem griechischen Wort «Demos» (= Volk) abgeleitet. Die Länder Europas
sind nicht bereit und willens, den grossen Schritt in einen gemeinsamen
Bundesstaat zu machen – wie ihn Jean Monnet vor Augen hatte, als er in
den 1950er Jahren begann, die «Vereinigten Staaten von Europa» zu
propagieren. Die Gründe sind vielfältig und vielschichtig. Dabei geht es
nicht nur um wirtschaftliche Fragen wie ausgeglichene Bilanzen oder die
Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch um die politische Kultur und die
individuelle Geschichte, die Lebensart und Gewohnheiten der Bevölkerung
und vieles mehr. Die Unterschiede sind gross und zeichnen jedes Land für
sich aus. Sie machen das Leben in Europa so reich und verunmöglichen
es, die zahlreichen Völker politisch unter einen Hut zu bringen oder in
ein einheitliches Korsett zu zwängen. Das zeigt auch die europäische
Geschichte. Bundesrat Hans Schaffner hat es in einer Botschaftersitzung
in den 1960er Jahren einmal treffend ausgedrückt: Man müsste die
einzelnen Völker zu diesem Schritt «überlisten», und er habe sehr grosse
Zweifel, ob dies gelingen werde (dodis.ch/30358).
Am Scheideweg: Rückbau oder «Weiterwursteln» wie bisher?
Naheliegend wären ein nüchternes Innehalten und ein
Abschiednehmen von der fixen Vorstellung, dass die politische
Integration zwangsläufig einfach immer weitergehen soll. Erwünscht wären
echte Reformer, die kritisch prüfen, was in der EU gut funktioniert und
was nicht, und die den Mut haben, allenfalls auch einen Rückbau
vorzunehmen. Es geht nicht nur um den Euro und die Schulden. Ob die
Zentralisierung der Landwirtschaftspolitik in Brüssel eine so gute Idee
war, wage ich zu bezweifeln. Ist doch die Landwirtschaft wie kein
anderer Wirtschaftszweig unmittelbar mit dem jeweiligen Land und der
Bevölkerung verbunden und kann in Krisen für ein Land durchaus
existentielle Bedeutung haben. Ich denke auch an die Subventionspolitik
der EU im Rahmen der verschiedenen Fonds. Hunderte von Milliarden sind –
gut gemeint – im Verlaufe der Jahrzehnte in die südlichen Länder
geflossen, um den «Unternehmergeist» zu stärken, wie es in den Papieren
aus Brüssel so schön heisst. Die heutigen Arbeitslosenzahlen zeigen,
dass dieses viele Geld bei weitem nicht das erreicht hat, was man sich
erhofft hatte.
Welche Antworten gibt das Europa-Modell der EFTA?
Die EFTA ist ein Vertragswerk, das die Souveränität
der beteiligten Nationen bewahrt. Am 4. Januar 1960 unterschrieben die
Schweiz, Österreich, Schweden, Dänemark, Grossbritannien, Irland und
Portugal die Konvention von Stockholm, die die Grundlage der
Europäischen Freihandels-Assoziation (EFTA) bildet. Art. 3 enthielt die
Verpflichtung, die Zölle innerhalb der nächsten zehn Jahre aufzuheben
und mengenmässige Einfuhrbeschränkungen abzuschaffen. Die Konvention
liess Ausnahmen für den Fall zu, dass ein Land in finanzielle
Schwierigkeiten geriet. Im wesentlichen beschränkte sich die Konvention
auf den Handel mit Industriegütern. Art. 21 wies ausdrücklich auf die
Besonderheit der Landwirtschaft hin. Ihre Erzeugnisse wurden vom
Zollabbau ausgenommen. Ziel der EFTA-Länder war es, die Spaltung in
Europa zu überwinden und eine gesamteuropäische Freihandelszone zu
errichten.
1972 gelang den Verhandlungsführern der EFTA und der Europäischen Gemeinschaft (EG) ein eigentlicher Durchbruch. Es gelang, für alle Länder der EG und der EFTA eine Freihandelszone einzurichten, die vorerst für Industriegüter galt und danach mehr und mehr auch in den Dienstleistungsbereich ausgeweitet wurde. Die Landwirtschaft blieb auch weiter den einzelnen Ländern überlassen.
Das Freihandelsabkommen von 1972 hat die Stimmbürger in der Schweiz in hohem Masse überzeugt. 71 Prozent und sämtliche Kantone begrüssten diesen Weg, der die Souveränität der beteiligten Länder bewahrte. Die Schweiz schloss in den folgenden Jahren – allein oder meist als Mitglied der EFTA – zahlreiche weitere bilaterale Verträge mit der EG ab, die auch den Dienstleistungsbereich erfassten. Je nach Zählart wurden damals zwischen 130 und 180 bilaterale Verträge abgeschlossen, die im Vergleich zu heute deutlich mehr Mitwirkungsrechte enthielten. Es war dies ein friedliches und respektvolles Nebeneinander unterschiedlicher Systeme. Die Länder der EG und der EFTA hatten die Hindernisse an den Grenzen abgebaut und ihr Ziel der Wirtschaftsintegration europaweit weitgehend erreicht.
2001 wurde die EFTA-Konvention vollständig überarbeitet. Neu dazu gehört auch die Personenfreizügigkeit sowie Regeln für den Handel mit Dienstleistungen, den Kapitalverkehr und den Schutz des geistigen Eigentums.
Seit den 1990er Jahren haben Freihandelsabkommen in der Weltwirtschaft an Bedeutung gewonnen. Seit die Doha-Runde der WTO gescheitert ist, hat sich dieser Trend weiter verstärkt. Die EFTA-Staaten haben schon seit einigen Jahren begonnen, ihre Freihandelspolitik auf Partner ausserhalb Europas auszudehnen. Heute verfügt die EFTA über ein Netzwerk aus einer Vielzahl von massgeschneiderten Freihandelsabkommen in der ganzen Welt. Ein Abkommen mit China wurde vor kurzem abgeschlossen, eines mit Indien steht bevor.
1972 gelang den Verhandlungsführern der EFTA und der Europäischen Gemeinschaft (EG) ein eigentlicher Durchbruch. Es gelang, für alle Länder der EG und der EFTA eine Freihandelszone einzurichten, die vorerst für Industriegüter galt und danach mehr und mehr auch in den Dienstleistungsbereich ausgeweitet wurde. Die Landwirtschaft blieb auch weiter den einzelnen Ländern überlassen.
Das Freihandelsabkommen von 1972 hat die Stimmbürger in der Schweiz in hohem Masse überzeugt. 71 Prozent und sämtliche Kantone begrüssten diesen Weg, der die Souveränität der beteiligten Länder bewahrte. Die Schweiz schloss in den folgenden Jahren – allein oder meist als Mitglied der EFTA – zahlreiche weitere bilaterale Verträge mit der EG ab, die auch den Dienstleistungsbereich erfassten. Je nach Zählart wurden damals zwischen 130 und 180 bilaterale Verträge abgeschlossen, die im Vergleich zu heute deutlich mehr Mitwirkungsrechte enthielten. Es war dies ein friedliches und respektvolles Nebeneinander unterschiedlicher Systeme. Die Länder der EG und der EFTA hatten die Hindernisse an den Grenzen abgebaut und ihr Ziel der Wirtschaftsintegration europaweit weitgehend erreicht.
2001 wurde die EFTA-Konvention vollständig überarbeitet. Neu dazu gehört auch die Personenfreizügigkeit sowie Regeln für den Handel mit Dienstleistungen, den Kapitalverkehr und den Schutz des geistigen Eigentums.
Seit den 1990er Jahren haben Freihandelsabkommen in der Weltwirtschaft an Bedeutung gewonnen. Seit die Doha-Runde der WTO gescheitert ist, hat sich dieser Trend weiter verstärkt. Die EFTA-Staaten haben schon seit einigen Jahren begonnen, ihre Freihandelspolitik auf Partner ausserhalb Europas auszudehnen. Heute verfügt die EFTA über ein Netzwerk aus einer Vielzahl von massgeschneiderten Freihandelsabkommen in der ganzen Welt. Ein Abkommen mit China wurde vor kurzem abgeschlossen, eines mit Indien steht bevor.
Paradigmenwechsel
Die USA haben nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrem
weltpolitischen Konzept ein einheitliches «Europa» eingeplant und aktiv
darauf hingearbeitet. Damals war Kalter Krieg. Die verschiedenen Länder
sollten ihre «Kleinstaaterei» überwinden und einen einheitlichen Block,
eine immer engere Union, bilden. Jean Monnet hat diese Botschaft – wie
oben schon dargelegt – bis zu seinem Tod über sein länderübergreifendes
Netzwerk propagiert und dieses Projekt kontinuierlich vorangetrieben.
Nur – der Kalte Krieg, der für diese Politik Pate gestanden hat, ist längst vorbei. Kann dieses veraltete Konzept den Bedürfnissen der europäischen Nationen heute noch gerecht werden? Ist es zukunftstauglich? In der modernen Welt von heute lassen sich zwischenstaatliche Beziehungen viel besser auf eine freiheitliche, eigenverantwortliche Art über Verträge regeln. Jedes Land will als mündiger und souveräner Vertragspartner ernstgenommen werden. – Die Idee der immer enger werdenden supranationalen Union, die «Europa» zu einem Block vereint, ist ein Relikt aus dem Kalten Krieg des letzten Jahrhunderts und stammt im wesentlichen aus den USA. Wie lange soll die Fremdbestimmung noch andauern?
Es stimmt, dass die EFTA keine Machtbasis hat und keine politischen Ziele verfolgt. Dafür ist sie viel beweglicher als der schwerfällige Koloss EU. So ist es der EFTA in den letzten Jahren gelungen – oft noch vor der EU –, rund um den Globus mit einer Vielzahl von Ländern massgeschneiderte Freihandelsverträge abzuschliessen. Solche Verträge sind im Grossgebilde EU kaum möglich, weil die Interessen einer Vielzahl von Ländern zwangsläufig über einen Leisten geschlagen werden müssen.
Die beiden Modelle, wie Europa eingerichtet werden könnte, haben Auswirkungen auf die innerstaatlichen Strukturen der einzelnen Mitglieder: In einer politischen Union müssen die Strukturen der Mitgliedsländer angepasst werden, so dass sie zentral gelenkt werden können. Dieser Prozess ist bereits im Gange. «Überwindung der Kleinräumigkeit», «Fusionen aller Art», «grenzüberschreitende Regionalisierung» und «Einrichtung von Metropolitanregionen» sind Etappen auf dem Weg zu grossen Räumen, die zentralistisch geführt werden und – notabene – nicht durch gewählte Gremien, sondern durch vom Grosskapital ernannte Vertreter.
Nur – der Kalte Krieg, der für diese Politik Pate gestanden hat, ist längst vorbei. Kann dieses veraltete Konzept den Bedürfnissen der europäischen Nationen heute noch gerecht werden? Ist es zukunftstauglich? In der modernen Welt von heute lassen sich zwischenstaatliche Beziehungen viel besser auf eine freiheitliche, eigenverantwortliche Art über Verträge regeln. Jedes Land will als mündiger und souveräner Vertragspartner ernstgenommen werden. – Die Idee der immer enger werdenden supranationalen Union, die «Europa» zu einem Block vereint, ist ein Relikt aus dem Kalten Krieg des letzten Jahrhunderts und stammt im wesentlichen aus den USA. Wie lange soll die Fremdbestimmung noch andauern?
Es stimmt, dass die EFTA keine Machtbasis hat und keine politischen Ziele verfolgt. Dafür ist sie viel beweglicher als der schwerfällige Koloss EU. So ist es der EFTA in den letzten Jahren gelungen – oft noch vor der EU –, rund um den Globus mit einer Vielzahl von Ländern massgeschneiderte Freihandelsverträge abzuschliessen. Solche Verträge sind im Grossgebilde EU kaum möglich, weil die Interessen einer Vielzahl von Ländern zwangsläufig über einen Leisten geschlagen werden müssen.
Die beiden Modelle, wie Europa eingerichtet werden könnte, haben Auswirkungen auf die innerstaatlichen Strukturen der einzelnen Mitglieder: In einer politischen Union müssen die Strukturen der Mitgliedsländer angepasst werden, so dass sie zentral gelenkt werden können. Dieser Prozess ist bereits im Gange. «Überwindung der Kleinräumigkeit», «Fusionen aller Art», «grenzüberschreitende Regionalisierung» und «Einrichtung von Metropolitanregionen» sind Etappen auf dem Weg zu grossen Räumen, die zentralistisch geführt werden und – notabene – nicht durch gewählte Gremien, sondern durch vom Grosskapital ernannte Vertreter.
Lebendige Demokratie
Nun ist es aber so, dass gerade in den kleinräumigen Strukturen sich die Demokratie am besten entfaltet, weil sie von der Bevölkerung direkt gestaltet und mitgetragen wird. Massgeschneiderte Verträge können auf solche Eigenheiten am besten Rücksicht nehmen.Die EU-Mitglieder haben bereits heute einen grossen Teil ihrer Souveränität an die Zentrale abgegeben. Entsprechend haben sie in manchen Ländern ihre Eigenverantwortung abgebaut. In der Euro- und Schuldenkrise hat sich diese Einstellung als fatal erwiesen. Dieses Manko an Eigenverantwortung kann mit einem Mehr an Überwachung und Bevormundung nicht wettgemacht werden. Dieser Weg verhindert ein Zusammenleben in Freiheit und Würde, wofür gerade die griechische Kultur vor mehr als 2000 Jahren in Europa den Boden bereitet hat.
Es ist zu hoffen, dass solche Überlegungen am Krisengipfel in Brüssel in die Erwägung mit einbezogen werden und dass bei wegweisenden Beschlüssen die Stimmbürger das letzte Wort haben. •
***
Verhältnis von de Gaulle zu Monnet: «Das Duell des Jahrhunderts»
Was hätte General de Gaulle zum Europäischen Stabilitätsmechanismus gesagt?
von Rita Müller-Hill
Im Dienste des Friedens
De Gaulle sah die Möglichkeiten, die ein unabhängiges Europa der Nationen im Spannungsfeld des kalten Kriegs gehabt hätte: eine vermittelnde Kraft zwischen den Blöcken und damit im Dienste des Friedens. Eine solche Kraft könnte die Welt von heute auch dringend gebrauchen.
De Gaulle sah die Möglichkeiten, die ein unabhängiges Europa der Nationen im Spannungsfeld des kalten Kriegs gehabt hätte: eine vermittelnde Kraft zwischen den Blöcken und damit im Dienste des Friedens. Eine solche Kraft könnte die Welt von heute auch dringend gebrauchen.
In
aller Hast soll noch in diesem Frühjahr der Deutsche Bundestag dem
Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zustimmen. Abgesehen von den
Milliardensummen, die den Steuerzahlern der beitretenden Staaten
abgepresst werden sollen und über die wir ab und zu etwas in der
Tagespresse lesen können, beinhaltet der ESM eine weitgehende Abgabe
von Souveränitätsrechten. Er greift insbesondere umfassend in das
«Königsrecht» eines jeden Parlaments, nämlich das Recht, über den
eigenen Staatshaushalt zu bestimmen, ein. Der ESM nimmt den
Staatsvölkern den grössten Teil der ihnen bis jetzt noch verbliebenen
Souveränität und unterwirft sie einem diktatorischen Gouverneursrat und
Direktorium. Diesen Gremien gehören Mitglieder der Exekutiven der
beitretenden Länder an, dies können aber auch Nichteuropäer sein. Eine
Kontrolle oder Mitsprache durch die nationalen Parlamente ist nicht
vorgesehen. Das Fondsvolumen kann ohne jeweilige Zustimmung der
nationalen Parlamente beliebig erhöht werden, das heisst aus den
Haushalten der beitretenden Staaten genommen werden. Diese haben kein
Widerspruchsrecht. Auch eine Kündigung des «Vertrags» ist nicht
möglich. Die Zustimmung ist «unwiderruflich». Der Fonds unterliegt
keinem nationalen Recht. Sein Aufsichtsratsgremium, sein Vorstand und
alle seine Mitarbeiter sind rechtlich immun und von allen Steuern
befreit.1
De Gaulle
hat es kommen sehen, was Eric Roussel euphorisch über Jean Monnet
schreibt: «Was wirklich zählt ist der Geist des Anfangs. In dieser
Hinsicht ist der Ausdruck ‹Genie› meiner Meinung nach nicht fehl am
Platz. Indem er diesen ersten Schlag gegen die absolute Souveränität
der Staaten führte, schlug Monnet eine kapitale Bresche. Darin liegt
das wirklich Wesentliche.»2
Warum berichten die meisten Medien nicht über dieses geplante «Ermächtigungsgesetz», das als «Stabilitätsmechanismus» daherkommt? Warum sprechen die meisten Politiker nicht offen darüber bzw. wiegeln ab?3
Zu Beginn der 60er Jahre äusserte sich General de Gaulle, dessen Verhältnis zu Monnet auch als «das Duell des Jahrhunderts»4 bezeichnet wird, als französischer Staatspräsident immer wieder zu der Frage, wie eine europäische Gemeinschaft aussehen könnte, welche Voraussetzungen gegeben sein müssten, damit die einzelnen Staatsvölker ihre Souveränitätsrechte nicht aus der Hand geben müssten, um in einem freien und friedlichen Europa der unabhängigen, demokratischen, in Freundschaft und gegenseitigem Respekt verbundenen Staaten zu leben. Es tut gut, sich dies in Erinnerung zu rufen. De Gaulles Vorstellung kann durchaus als Kompass dienen in der heutigen prinzipienlosen und von jeder demokratischen Mitsprache abgehobenen Europapolitik der «Experten», die, unkontrolliert von souveränen Völkern, in den Hinterzimmern Massnahmen ausklüngeln, die den Interessen ihrer «ehemaligen» Arbeitgeber (z. B. Goldman Sachs) verpflichtet sind. Neuerdings spricht der derzeitige italienische Ministerpräsident Monti schon nicht mehr vom «Volk» oder «Staatsvolk», sondern von den «Bevölkerungen» Europas, ein Begriff, der bisher nicht für den Souverän, das Staatsvolk, benutzt wurde.5
Warum berichten die meisten Medien nicht über dieses geplante «Ermächtigungsgesetz», das als «Stabilitätsmechanismus» daherkommt? Warum sprechen die meisten Politiker nicht offen darüber bzw. wiegeln ab?3
Zu Beginn der 60er Jahre äusserte sich General de Gaulle, dessen Verhältnis zu Monnet auch als «das Duell des Jahrhunderts»4 bezeichnet wird, als französischer Staatspräsident immer wieder zu der Frage, wie eine europäische Gemeinschaft aussehen könnte, welche Voraussetzungen gegeben sein müssten, damit die einzelnen Staatsvölker ihre Souveränitätsrechte nicht aus der Hand geben müssten, um in einem freien und friedlichen Europa der unabhängigen, demokratischen, in Freundschaft und gegenseitigem Respekt verbundenen Staaten zu leben. Es tut gut, sich dies in Erinnerung zu rufen. De Gaulles Vorstellung kann durchaus als Kompass dienen in der heutigen prinzipienlosen und von jeder demokratischen Mitsprache abgehobenen Europapolitik der «Experten», die, unkontrolliert von souveränen Völkern, in den Hinterzimmern Massnahmen ausklüngeln, die den Interessen ihrer «ehemaligen» Arbeitgeber (z. B. Goldman Sachs) verpflichtet sind. Neuerdings spricht der derzeitige italienische Ministerpräsident Monti schon nicht mehr vom «Volk» oder «Staatsvolk», sondern von den «Bevölkerungen» Europas, ein Begriff, der bisher nicht für den Souverän, das Staatsvolk, benutzt wurde.5
Diktatur als «Regionalismus»
Vielleicht
soll er ja schon vorbereiten auf die in Regionen aufgesplitteten
Nationalstaaten, wie sie in «Le Monde» vom 17. Februar 2012 am Beispiel
Kataloniens begrüsst werden: «Unsere Vorstellung vom Europa der
Zukunft ist: mehr Europa, weniger Zentralstaaten und mehr regionale
Regierungen. Ein föderaleres Europa mit mehr Macht in Brüssel, weniger
Macht in Paris, Madrid oder Berlin, aber mehr Macht in Barcelona oder
Toulouse. Die traditionellen Staaten werden sich nicht mehr gleichen.
Sie werden Macht zugunsten Europas verlieren. Wenn wir eines Tages
einen Staat haben werden, werden wir keine Armee, keine Aussenpolitik,
keine Grenzkontrollen oder Zölle, keine Währung, keine Zentralbank mehr
haben. Aber wir werden Nachbarschaftspolitik, grundlegende öffentliche
Versorgung, Infrastruktur, innere Sicherheit und Steuerwesen haben
[…].» So Artur Mas, Präsident der regionalen Regierung Kataloniens.6
[Übersetzung d. Verf.] Derart entmündigt werden dann alle europäischen
Nationalstaaten sein. Der Präsident Kataloniens macht es uns vor:
ideales Modell eines EU-Mitglieds – er verzichtet von vornherein auf
alle Freiheitsrechte und degradiert Katalonien zum
Dienstleistungsunternehmen für Europa. Die Errungenschaft der
Aufklärung, die Bürgerlichkeit des Bürgers, ist dann weg!
Rufen wir uns an dieser Stelle noch einmal das amerikanische Programm in Erinnerung, wie Jean Monnet es in seinen Memoiren beschreibt: «Die Kooperation auf gleichem Fuss zwischen den Vereinigten Staaten und einem geteilten und zerstückelten Europa ist unmöglich. Sie ist allein möglich, wenn Frankreich und Deutschland sich vereinigen, und sie haben schon angefangen, eine weite europäische Entität zu schaffen in der Perspektive einer Art zweiten Amerikas.»7 [Übersetzung d.Verf.]
Das Zusammengehen Deutschlands und Frankreichs war für de Gaulle eine Herzensangelegenheit. Erinnern wir uns an die Elysée-Verträge von 1963, deren Kernstück die Versöhnung und freie Kooperation der beiden Nationen war. Ohne das Einmischen eines Dritten. Aber: das wurde verhindert durch die berühmte Präambel, deren Verfasser höchst wahrscheinlich Monnet selbst war, wie wir wiederum aus seinen Mémoiren erfahren können. «Zwischenzeitlich hatten wir einen […] Text redigiert, den die Parlamentsstrategen in die Form einer Präambel übersetzten und der vom Bundestag am 25. April einstimmig angenommen wurde. Darin erwähnten wir ‹die Beibehaltung und die Verstärkung des Zusammenhalts der freien Völker, insbesondere eine enge Kooperation zwischen den Vereinigten Staaten und Europa, eine gemeinsame Verteidigung im Rahmen der Nato, die Einheit Europas mit Grossbritannien.› Diese Präambel und die Einstimmigkeit rückten die Dinge wieder an ihren richtigen Platz, und der Vertrag als solcher verlor den Charakter einer exklusiven politischen Allianz, um rein administrativer Ausdruck der deutsch-französischen Versöhnung zu werden, die 12 Jahre vorher mit dem Schumann-Plan beschlossen worden war.»8 [Übersetzung d. Verf.]
De Gaulles Vorstellung von einem Europa der souveränen Staaten ist spätestens seit dem gescheiterten Durchsetzungsversuch der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954 deutlich geworden: Er spricht sich für ein Europa der souveränen Nationen aus, gegen ein supranationales Europa. Für ihn ist die Tatsache, dass ein Volk sich einer Mehrheitsentscheidung fremder Abgeordneter («l’aréopage») unterwirft, gleichbedeutend mit der Gefahr, dass man sich einem von aussen kommenden «fédérateur» (Vereiniger) oder Hegemon unterwirft, der unwillige Nationen zur Einhaltung von fremden Beschlüssen zwingen könnte.9
«Es dürfte jedem klar sein, dass kein einziges Volk es erlauben würde, sein Schicksal einem Areopag, der hauptsächlich aus Fremden bestehen würde, anzuvertrauen […]. Es ist weiterhin jedem klar, dass eine multilaterale atlantische Politik für die Stellung Europas bedeuten würde, dass es keine mehr hätte […].»10 «Die Aufgabe der nationalen Selbständigkeit in den Bereichen der Verteidigung und der Wirtschaft würde einem Anschluss an ein atlantisches System gleichkommen, das heisst dem amerikanischen, man wäre folglich dem untergeordnet, was die Amerikaner ihre «leadership» nennen. […] Darum weigert sich Frankreich, sich selbst und Europa in einem hinterhältigen Unternehmen versenken zu lassen, das die Staaten entblösst, die Völker auf Irrwege bringt und die Unabhängigkeit unseres Kontinents verhindert […].»11
Rufen wir uns an dieser Stelle noch einmal das amerikanische Programm in Erinnerung, wie Jean Monnet es in seinen Memoiren beschreibt: «Die Kooperation auf gleichem Fuss zwischen den Vereinigten Staaten und einem geteilten und zerstückelten Europa ist unmöglich. Sie ist allein möglich, wenn Frankreich und Deutschland sich vereinigen, und sie haben schon angefangen, eine weite europäische Entität zu schaffen in der Perspektive einer Art zweiten Amerikas.»7 [Übersetzung d.Verf.]
Das Zusammengehen Deutschlands und Frankreichs war für de Gaulle eine Herzensangelegenheit. Erinnern wir uns an die Elysée-Verträge von 1963, deren Kernstück die Versöhnung und freie Kooperation der beiden Nationen war. Ohne das Einmischen eines Dritten. Aber: das wurde verhindert durch die berühmte Präambel, deren Verfasser höchst wahrscheinlich Monnet selbst war, wie wir wiederum aus seinen Mémoiren erfahren können. «Zwischenzeitlich hatten wir einen […] Text redigiert, den die Parlamentsstrategen in die Form einer Präambel übersetzten und der vom Bundestag am 25. April einstimmig angenommen wurde. Darin erwähnten wir ‹die Beibehaltung und die Verstärkung des Zusammenhalts der freien Völker, insbesondere eine enge Kooperation zwischen den Vereinigten Staaten und Europa, eine gemeinsame Verteidigung im Rahmen der Nato, die Einheit Europas mit Grossbritannien.› Diese Präambel und die Einstimmigkeit rückten die Dinge wieder an ihren richtigen Platz, und der Vertrag als solcher verlor den Charakter einer exklusiven politischen Allianz, um rein administrativer Ausdruck der deutsch-französischen Versöhnung zu werden, die 12 Jahre vorher mit dem Schumann-Plan beschlossen worden war.»8 [Übersetzung d. Verf.]
De Gaulles Vorstellung von einem Europa der souveränen Staaten ist spätestens seit dem gescheiterten Durchsetzungsversuch der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954 deutlich geworden: Er spricht sich für ein Europa der souveränen Nationen aus, gegen ein supranationales Europa. Für ihn ist die Tatsache, dass ein Volk sich einer Mehrheitsentscheidung fremder Abgeordneter («l’aréopage») unterwirft, gleichbedeutend mit der Gefahr, dass man sich einem von aussen kommenden «fédérateur» (Vereiniger) oder Hegemon unterwirft, der unwillige Nationen zur Einhaltung von fremden Beschlüssen zwingen könnte.9
«Es dürfte jedem klar sein, dass kein einziges Volk es erlauben würde, sein Schicksal einem Areopag, der hauptsächlich aus Fremden bestehen würde, anzuvertrauen […]. Es ist weiterhin jedem klar, dass eine multilaterale atlantische Politik für die Stellung Europas bedeuten würde, dass es keine mehr hätte […].»10 «Die Aufgabe der nationalen Selbständigkeit in den Bereichen der Verteidigung und der Wirtschaft würde einem Anschluss an ein atlantisches System gleichkommen, das heisst dem amerikanischen, man wäre folglich dem untergeordnet, was die Amerikaner ihre «leadership» nennen. […] Darum weigert sich Frankreich, sich selbst und Europa in einem hinterhältigen Unternehmen versenken zu lassen, das die Staaten entblösst, die Völker auf Irrwege bringt und die Unabhängigkeit unseres Kontinents verhindert […].»11
Kastanien zu Kastanienpüree verrühren
Eine
supranationale europäische Integration führe zu einer Auflösung der
Nationen («wie der Zucker im Kaffee») und zu einer Uniformisierung der
europäischen Völker: «Frankreich wusste genauso gut wie alle anderen,
vor allem aber viel besser als diejenigen, die keine Europäer sind,
dass es ein Europa nur dank seiner Nationen geben kann, dass, von ihrer
Natur und Geschichte her, unser Kontinent so geworden ist, dass die
Fusion hier nur Konfusion bedeuten kann, wenn nicht sogar Unterdrückung
(«oppression»), dass man kein Europäer ist, wenn man vaterlandslos
ist, dass zum Beispiel Chateaubriand, Goethe, Byron, Tolstoi – um nur
die Romantiker zu erwähnen – nichts wert gewesen wären, wenn sie sich
in Volapük oder Esperanto ausgedrückt hätten, aber sie sind grosse
Schriftsteller Europas, weil sich jeder vom Erbe seines Landes
inspirieren liess.»12 [Für die Franzosen dauert die Epoche der Romantik 40 Jahre und beginnt mit der Französischen Revolution. Anm. d. Verf.]
«Jedes Volk unterscheidet sich vom anderen durch seine unvergleichliche Persönlichkeit, die unveränderlich und unumkehrbar ist. Wenn Sie wollen, dass die Nationen sich vereinigen, versuchen Sie sie nicht miteinander zu verrühren, wie man Kastanien zu einem Kastanienpüree verrührt. […] Ich glaube also, dass gegenwärtig, nicht mehr als in anderen Epochen, eine Vereinigung Europas keine Fusion der Völker sein kann, sondern dass sie aus ihrer systematischen Annäherung hervorgehen muss.»13
De Gaulle war also explizit gegen den supranationalen Charakter der Institutionen auf europäischer Ebene und befürwortete ein politisches Organ, das durch Mitglieder der Nationalregierungen gebildet wird und das die Souveränität der europäischen Nationen respektiert.14
«Jedes Volk unterscheidet sich vom anderen durch seine unvergleichliche Persönlichkeit, die unveränderlich und unumkehrbar ist. Wenn Sie wollen, dass die Nationen sich vereinigen, versuchen Sie sie nicht miteinander zu verrühren, wie man Kastanien zu einem Kastanienpüree verrührt. […] Ich glaube also, dass gegenwärtig, nicht mehr als in anderen Epochen, eine Vereinigung Europas keine Fusion der Völker sein kann, sondern dass sie aus ihrer systematischen Annäherung hervorgehen muss.»13
De Gaulle war also explizit gegen den supranationalen Charakter der Institutionen auf europäischer Ebene und befürwortete ein politisches Organ, das durch Mitglieder der Nationalregierungen gebildet wird und das die Souveränität der europäischen Nationen respektiert.14
Es müssen Volksabstimmungen abgehalten werden
Charles
de Gaulle wollte ein «Europa der Völker und der Staaten» schaffen und
entsprechend der doppelten Forderung den demokratischen und
realistischen Gegebenheiten Rechnung tragen.
Das demokratische Postulat bedeutet für de Gaulle, Europa auf der Akzeptanz der Völker aufzubauen, jenseits des alleinigen Willens der politischen Führer. Charles de Gaulle befürwortete deswegen Volksabstimmungen:
«Dieses Europa wird geboren werden, wenn die Völker in ihrem tiefsten Inneren beschliessen, sich ihm anzuschliessen. Es wird nicht reichen, dass die Parlamente eine Ratifizierung beschliessen. Es müssen Volksabstimmungen abgehalten werden.»15
«Auf welche Pfeiler kann man also Europa bauen? In Wirklichkeit sind es die Staaten, die sicherlich sehr verschieden sind, einer vom anderen, von denen jeder seine eigene Seele hat, seine eigene Geschichte, seine eigene Sprache, seine Unglücke, seinen Ruhm, seinen eigenen Ehrgeiz, aber es sind die Staaten, als einzige Grössen, die das Recht und die Autorität besitzen zu handeln. Sich vorzustellen, dass es etwas gäbe, das Aussicht auf Erfolg hätte und das von den Völkern gutgeheissen würde, ausserhalb und jenseits der Staaten, das ist ein Hirngespinst.»16
Der Leser merkt, wie aus jedem Satz dieser Stellungnahmen de Gaulles der Respekt vor dem Volkswillen, vor dem demokratischen Staat spricht. Im gleichen Atemzug wird die Möglichkeit einer Unterordnung unter eine wie auch immer geartete «leadership» als Selbstaufgabe benannt.
In dem «Duell des Jahrhunderts» ging es genau um diesen Punkt: Achtung des Volkswillens und damit Wahrung der Souveränität auf seiten de Gaulles versus Abgabe der Souveränität und Herrschaft der «Experten» unter Umgehung des Volkswillens auf seiten Monnets und seiner amerikanischen Freunde.
Der ESM mit seinem unkontrollierten Direktorium und Gouverneursrat und ihrer De-facto-Ermächtigung, in die Staatshaushalte der «Vertragspartner» eingreifen zu können, wann immer es ihnen nötig erscheint, entspricht gar nicht der von de Gaulle so hoch bewerteten Volkssouveränität. Er führt uns direkt in die von ihm vorausgesagte «oppression», zu deutsch: Knechtschaft einer auswärtigen Macht. Der Zusammenhang zwischen Abgabe von Souveränität und Unterordnung unter einen Hegemon war für de Gaulle offensichtlich. Ein Staatsvolk, das seiner Souveränität verlustig geht, kann keine unabhängigen Entscheidungen treffen, weder nach innen noch nach aussen. Und wenn viele «enthauptete» Völker «zusammengerührt» werden wie ein «Maronenpüree», so führt das nicht zu unabhängigen Entscheidungen, sondern es wird sich sozusagen der «lachende Dritte» an die Spitze setzen und befehlen.
De Gaulle sah die Möglichkeiten, die ein unabhängiges Europa der Nationen im Spannungsfeld des kalten Kriegs gehabt hätte: eine vermittelnde Kraft zwischen den Blöcken und damit im Dienste des Friedens. Eine solche Kraft könnte die Welt von heute auch dringend gebrauchen.
Sollten wir uns nicht doch auf eine Alternative besinnen? Auch wenn uns die Propheten im Schlepptau Monnets immer wieder versuchen einzureden, dass es zum supranationalen Europa keine Alternative als Krieg gebe?
Die von den USA nicht gewollte Efta war und ist eine solche Alternative: «[…] ein Verbund, eine kleine Freihandelszone, in der souveräne Nationen gleichberechtigt, auf freiheitlicher Basis miteinander zusammenarbeiten».17 •
Das demokratische Postulat bedeutet für de Gaulle, Europa auf der Akzeptanz der Völker aufzubauen, jenseits des alleinigen Willens der politischen Führer. Charles de Gaulle befürwortete deswegen Volksabstimmungen:
«Dieses Europa wird geboren werden, wenn die Völker in ihrem tiefsten Inneren beschliessen, sich ihm anzuschliessen. Es wird nicht reichen, dass die Parlamente eine Ratifizierung beschliessen. Es müssen Volksabstimmungen abgehalten werden.»15
«Auf welche Pfeiler kann man also Europa bauen? In Wirklichkeit sind es die Staaten, die sicherlich sehr verschieden sind, einer vom anderen, von denen jeder seine eigene Seele hat, seine eigene Geschichte, seine eigene Sprache, seine Unglücke, seinen Ruhm, seinen eigenen Ehrgeiz, aber es sind die Staaten, als einzige Grössen, die das Recht und die Autorität besitzen zu handeln. Sich vorzustellen, dass es etwas gäbe, das Aussicht auf Erfolg hätte und das von den Völkern gutgeheissen würde, ausserhalb und jenseits der Staaten, das ist ein Hirngespinst.»16
Der Leser merkt, wie aus jedem Satz dieser Stellungnahmen de Gaulles der Respekt vor dem Volkswillen, vor dem demokratischen Staat spricht. Im gleichen Atemzug wird die Möglichkeit einer Unterordnung unter eine wie auch immer geartete «leadership» als Selbstaufgabe benannt.
In dem «Duell des Jahrhunderts» ging es genau um diesen Punkt: Achtung des Volkswillens und damit Wahrung der Souveränität auf seiten de Gaulles versus Abgabe der Souveränität und Herrschaft der «Experten» unter Umgehung des Volkswillens auf seiten Monnets und seiner amerikanischen Freunde.
Der ESM mit seinem unkontrollierten Direktorium und Gouverneursrat und ihrer De-facto-Ermächtigung, in die Staatshaushalte der «Vertragspartner» eingreifen zu können, wann immer es ihnen nötig erscheint, entspricht gar nicht der von de Gaulle so hoch bewerteten Volkssouveränität. Er führt uns direkt in die von ihm vorausgesagte «oppression», zu deutsch: Knechtschaft einer auswärtigen Macht. Der Zusammenhang zwischen Abgabe von Souveränität und Unterordnung unter einen Hegemon war für de Gaulle offensichtlich. Ein Staatsvolk, das seiner Souveränität verlustig geht, kann keine unabhängigen Entscheidungen treffen, weder nach innen noch nach aussen. Und wenn viele «enthauptete» Völker «zusammengerührt» werden wie ein «Maronenpüree», so führt das nicht zu unabhängigen Entscheidungen, sondern es wird sich sozusagen der «lachende Dritte» an die Spitze setzen und befehlen.
De Gaulle sah die Möglichkeiten, die ein unabhängiges Europa der Nationen im Spannungsfeld des kalten Kriegs gehabt hätte: eine vermittelnde Kraft zwischen den Blöcken und damit im Dienste des Friedens. Eine solche Kraft könnte die Welt von heute auch dringend gebrauchen.
Sollten wir uns nicht doch auf eine Alternative besinnen? Auch wenn uns die Propheten im Schlepptau Monnets immer wieder versuchen einzureden, dass es zum supranationalen Europa keine Alternative als Krieg gebe?
Die von den USA nicht gewollte Efta war und ist eine solche Alternative: «[…] ein Verbund, eine kleine Freihandelszone, in der souveräne Nationen gleichberechtigt, auf freiheitlicher Basis miteinander zusammenarbeiten».17 •
1 http://www.krivor.de/bilder/esm-vertragsentwurf.pdf
2 Gérard Bossuat et Andreas Wilkens, Jean Monnet, l'Europe et les chemins de la paix: actes du colloque de Paris du 29 au 31 mai 1997, p. 490
3 Schäuble auf dem European Banking Congress 2011
4 Eric Branca, de Gaulle – Monnet: le duel du siècle. http://www.observatoiredeleurope.com/De-Gaulle-Monnet-le-duel-du-siecle_a1434.html
5 Mario Monti, Fremde Federn, FAZ, 15. 2. 2012
6 Le Monde, «La Catalogne pourrait parfaitement être un Etat dans l'Union européenne.» 17 février 2012, p. 6
7 Jean Monnet, Mémoires, Fayard, Paris 1976, p. 547
8 ebenda p. 551
9 Pressekonferenz vom 15. Mai 1962. Alle folgenden Zitate vom Verf. übersetzt, zitiert nach Laurent de Boissieu, Une certaine idée de l’Europe, http://www.gaullisme.net/europe-gaulliste.html
10 Pressekonferenz vom 31. Januar 1964, vgl. Anmerkung 9
11 Pressekonferenz vom 23. Juli 1964, vgl. Anmerkung 9
12 Pressekonferenz vom 12. 11. 1953, vgl. Anmerkung 9
13 De Gaulle, Mémoires d'Espoir, p. 181, zitiert nach Laurent de Boissieu, Une certaine idée de l’Europe, http://www.gaullisme.net/europe-gaulliste.html
14 Pressekonferenz vom 15. 5. 1962, vgl. Anmerkung 9
15 Pressekonferenz vom 14. 11. 1949, vgl. Anmerkung 9
16 Pressekonferenz vom 5. 9. 1960, siehe Anmerkung 9 (Alle Pressekonferenzen General de Gaulles können unter ihrem jeweiligen Datum im Internet abgerufen werden.)
17 Werner Wüthrich, Das europäische Orchester wieder zum Klingen bringen. Zeit-Fragen vom 17. Januar 2012, Nr 3
2 Gérard Bossuat et Andreas Wilkens, Jean Monnet, l'Europe et les chemins de la paix: actes du colloque de Paris du 29 au 31 mai 1997, p. 490
3 Schäuble auf dem European Banking Congress 2011
4 Eric Branca, de Gaulle – Monnet: le duel du siècle. http://www.observatoiredeleurope.com/De-Gaulle-Monnet-le-duel-du-siecle_a1434.html
5 Mario Monti, Fremde Federn, FAZ, 15. 2. 2012
6 Le Monde, «La Catalogne pourrait parfaitement être un Etat dans l'Union européenne.» 17 février 2012, p. 6
7 Jean Monnet, Mémoires, Fayard, Paris 1976, p. 547
8 ebenda p. 551
9 Pressekonferenz vom 15. Mai 1962. Alle folgenden Zitate vom Verf. übersetzt, zitiert nach Laurent de Boissieu, Une certaine idée de l’Europe, http://www.gaullisme.net/europe-gaulliste.html
10 Pressekonferenz vom 31. Januar 1964, vgl. Anmerkung 9
11 Pressekonferenz vom 23. Juli 1964, vgl. Anmerkung 9
12 Pressekonferenz vom 12. 11. 1953, vgl. Anmerkung 9
13 De Gaulle, Mémoires d'Espoir, p. 181, zitiert nach Laurent de Boissieu, Une certaine idée de l’Europe, http://www.gaullisme.net/europe-gaulliste.html
14 Pressekonferenz vom 15. 5. 1962, vgl. Anmerkung 9
15 Pressekonferenz vom 14. 11. 1949, vgl. Anmerkung 9
16 Pressekonferenz vom 5. 9. 1960, siehe Anmerkung 9 (Alle Pressekonferenzen General de Gaulles können unter ihrem jeweiligen Datum im Internet abgerufen werden.)
17 Werner Wüthrich, Das europäische Orchester wieder zum Klingen bringen. Zeit-Fragen vom 17. Januar 2012, Nr 3
(Quelle: Zeit-Fragen)
E-Mail: Peterheymannloanoffer@Gmail.com
AntwortenLöschenIch bin ein pensionierter Bankier, der im Herzen der Bank arbeitet. Ich biete kurz-, mittel- und langfristige Darlehen zwischen 4000 und 500.000 Euro und mehr an. Mein Zinssatz beträgt 3% pro Jahr. Kontakt: Peterheymannloanoffer@Gmail.com
Funktioniert ohne Einladung leider nicht! :-(
AntwortenLöschen